Wintergeister
den Salon zurück, bis Vater nach Hause kam. Ich hörte die beiden hinter verschlossenen Türen reden. Ich drückte ein Ohr gegen das polierte Holz, betete darum, dass sie meine Anwesenheit spürten und mich hineinließen. Mich trösteten. Aber sie taten es nicht. Und obwohl ich wusste, dass wir ein Telegramm bekommen hatten und alles verloren war, sagte mir niemand, was in dem Telegramm stand. Was genau mit George passiert war. Sie vergaßen mich schlicht und ergreifend.
Ich war fünfzehn, aber ich bezog auf halber Höhe der Treppe Posten, so wie ich das als kleiner Junge getan hatte, und behielt die Haustür im Auge, den Kopf ans Geländer gelehnt, die Arme Trost suchend um die Stäbe geschlungen. Ich blieb stundenlang dort sitzen, sah das Licht der untergehenden Sonne durch das Buntglas fallen und rote und blaue Strahlen auf den Fliesenboden werfen.«
»Um George kraft deines Willens nach Hause zu holen?«
Ich zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht.«
Sachte, behutsam streckte sie den Arm aus und legte ihre Hand auf meine. Ihre Haut war kalt, ihre Berührung unwirklich, so leicht, als wäre sie kaum da. Aber ich war überwältigt von dem Verständnis, das mir diese Geste vermittelte, dankbar für ihre Zuwendung.
»Wie ich erst einige Zeit später erfuhr, stand in dem Telegramm, dass George vermisst wurde. Ich weiß bis heute nicht, warum es so lange dauerte, bis uns die Nachricht erreichte. Er war schon Wochen vorher vermisst worden, viele, viele Wochen. Seit dem 30. Juni. Nach dem Gefecht bei Richebourg l’Avoué in der Nähe eines Ortes namens Ferme du Bois. Einen Tag vor Beginn der Schlacht an der Somme. Vermisst, stand in dem Telegramm. Nicht tot. Das brachte mich durcheinander. Ich dachte – hoffte –, dass es noch Zweifel gab. Vielleicht hatten die Deutschen ihn gefangen genommen. Vielleicht lag er im Lazarett und hatte das Gedächtnis verloren. Ich war wütend auf meine Eltern, weil sie so bereitwillig vom Schlimmsten ausgingen. Weil sie sich nicht an die Idee klammerten, dass er noch leben könne.
Später schickten sie uns seine Sachen nach Hause. Klamm und abgetragen und dreckverkrustet, ein Geruch nach Leichenhaus und Gas. Seine Mütze fehlte. Das Abzeichen des Hosenbandordens und die Roussillon-Feder, auf die er so stolz gewesen war, waren verschwunden. Aber wir bekamen eine Weste, steif vor Blut, und sein Koppel.« Ich schluckte schwer. »Erst als ich zufällig mit anhörte, wie Florence an der Hintertür mit dem Sohn des Eisenhändlers sprach, wurde mir klar, dass von George wohl nicht mehr viel übrig gewesen war, was hätte identifiziert werden können, weil sein Körper völlig zerfetzt worden war. Fast das gesamte 13. Bataillon, die Southdowner, wurde ausgelöscht. Die wussten verdammt gut, dass er tot war, niedergemäht mit seinen Männern. Aber sie konnten die Leichen einfach nicht mehr voneinander unterscheiden.«
»Und dann wurdest du krank?«
Ich schüttelte den Kopf. »Da noch nicht, später. Der Zusammenbruch, Kollaps,
petit mal
, Neurasthenie, die Krise, wie auch immer man es nennen will, kam nicht sofort. Erst als ich so alt war wie George, als er starb. Genauer gesagt, an meinem einundzwanzigsten Geburtstag.«
»Hast du nicht über deine Trauer gesprochen?«
Ich zuckte die Achseln. »Wer hätte mir denn zugehört? Im Umkreis von einer Meile machten bei uns zu Hause zwanzig, dreißig Familien das Gleiche durch wie wir. Der 30. Juni 1916 ist als der ›Tag, an dem Sussex starb‹ in die Geschichte eingegangen. Hunderte von Männern aus unserer Gegend, junge Burschen wie George, waren in den Krieg gezogen und nie zurückgekehrt. Auf einer Tafel an der Wand der Gedenkstätte in meinem Heimatdorf stehen an die dreißig Soldaten aller Dienstgrade, die an diesem Tag gefallen sind. In sämtlichen umliegenden Dörfern war es nicht anders. Und immer stand eine weitere Schlacht bevor, noch schlimmer und blutiger und unerklärlicher. Wahrscheinlich dachte ich, ich hätte kein Recht, so viel Getue zu machen. Dass ich alt genug war, um damit fertig zu werden. Auf jeden Fall dachten meine Eltern das.«
»Haben sie nicht gemerkt, wie sehr du gelitten hast?«
»Ich weiß nicht, ob das etwas geändert hätte. George war nämlich ihr Liebling. Nicht, dass sie mir gegenüber bewusst herzlos waren, aber die Trauer um George raubte ihnen die Lebenskraft. Dass auch ich ihn vermissen könnte, kam ihnen gar nicht in den Sinn. Und ich für mein Teil glaubte auf meine konfuse, altmodische Art,
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