Wintergeister
Ich schluckte schwer. »Vor allem aber schuldig, weil ich lernte, ohne ihn zu leben. Das kam mir vor wie Verrat.«
»Verrat an wem?«
»An George.« Ich winkte vage mit einer Hand, spürte den Wein durch die Adern rauschen. »An uns. Irrational, ich weiß.«
»Nahestehende zu überleben erfordert eine besondere Art von Mut«, sagte sie leise.
»Ja«, seufzte ich erleichtert, weil sie mich verstand. »Und da war noch etwas. Aus heutiger Sicht wirkt es idiotisch, aber in den Tagen und Wochen, nachdem wir das Telegramm erhalten hatten, versuchte ich zu feilschen. Ich sagte mir – sagte zu einem Gott, an den ich nicht mehr glaubte –, falls George nicht tot ist, dann lese ich dieses Buch nicht, dann spiele ich diese Etüde nicht oder tue dies oder jenes nicht. Blödsinnige Wetten, an die ich mich inzwischen kaum mehr erinnere.« Ich zog den Baumwollfaden noch fester, bis er zerriss. Sobald der Druck weg war, fühlte ich, wie das Blut in meinen Finger zurückströmte. »Vermisst. Vermisst, vermutlich tot. Wir hatten keinen Leichnam zu bestatten. Keine Beisetzung. Keinen Grabstein als Zeichen seines Ablebens.«
Fabrissa nickte. »Es fühlte sich nicht an, als wäre es vorbei.«
Ich nickte ebenfalls. »Das wurde mir erst klar, als die St George’s Chapel in der Kathedrale von Chichester dem Andenken der Gefallenen des Royal Sussex Regiment geweiht wurde. Das war am 11. November 1921, dem Jahrestag des Waffenstillstands. Erst da traf mich diese vollständige und unwiderrufliche Leere mit ganzer Wucht. Diese quälende, unbeantwortete Frage, wo genau er gefallen war. Wie genau er gestorben war. Sein Name stand dort für aller Augen sichtbar, aber was bedeutete das? Es gab auch ein Denkmal, ein helles Steinkreuz auf dem Eastgate Square, und eine weitere Namensauflistung in der neuen Gedenkstätte, die auf unserem Dorfanger errichtet worden war. Aber auch dort war George nicht zu finden.«
»Aber er verstand das. Und deshalb nahmst du Zuflucht zu einem anderen Ort, um bei ihm zu sein.«
Eine Welle der Dankbarkeit brandete über mich hinweg, weil diese schöne Fremde, diese junge Frau, alles so klar erfasste, wohingegen diejenigen, die mich am besten hätten kennen müssen, das nicht vermocht hatten.
»Ich hielt sechs Jahre durch. Aber am Ende kam er doch, mein Zusammenbruch, Kollaps, egal, wie man es nennt. Im Dezember 1922. Ich wurde in eine Privatklinik gebracht, ein Sanatorium für Männer mit Nervenleiden, Neurasthenie und anderen Folgen, wenn man die Schützengräben überlebt hat. Das medizinische Personal war freundlich und tüchtig.« Ich sah Fabrissa kurz an. »Aber ich wollte nicht genesen, wenn ich dafür das wenige, das mir von meinem Bruder geblieben war, aufgeben musste.«
Bitte sehr. Ich hatte es gesagt. Ich atmete aus. Meine Schultern sanken herab, erschöpft von meiner Beichte. Alle Gefühle, alle Gewissensbisse und alle Fragen, die ich so lange in mir hatte gären lassen, lagen plötzlich offen ausgebreitet da, wie ungewollte Geschenke. Dann, allmählich, umspielte ein ganz schwaches Lächeln meine Lippen. Ich fühlte mich tatsächlich erleichtert. Ausgelaugt, keine Frage, doch zum ersten Mal seit jenem Septembertag des Jahres 1916 erfüllte Frieden mein verwundetes Herz.
Stille trat zwischen uns. Und in dieser Stille schienen alle Worte, gesagte und ungesagte, zu singen. Und in ihr war die ganze Welt enthalten, erklärt.
»Doch jetzt ist es an der Zeit, ihn gehen zu lassen. Es ist Zeit, aus den Schatten zu treten. Das weißt du.«
Ich riss die Augen auf. Im Klang und Ton ihrer Stimme schwang etwas mit, das eine andere Erinnerung in mir wachrief. Eine Verbindung zwischen Fabrissas klarer Stimme, die im Ostal mit mir sprach, und dem Flüstern auf der Straße nach Vicdessos.
»Freddie.« Sie hauchte das Wort mehr, als dass sie es sprach. »Das weißt du. Sonst wärst du nicht hier.«
Diese Stimme. Ihre Stimme. Wie war das möglich? Konnte die Bergluft so trügerisch sein, meine Wahrnehmung verzerren und verfälschen?
»Du warst das«, sagte ich schließlich, ungläubig und zugleich wissend, dass ich recht hatte. »Dich habe ich gehört.«
Der Angriff
S ie wandte das Gesicht ab.
»Fabrissa?«, sagte ich beschwörend. »Warst du das heute oben in den Bergen, ehe es anfing zu schneien? Warst du es? Hast du mich gesehen? Fabrissa, bitte.«
Noch immer antwortete sie mir nicht. Ich hätte sie noch weiter bedrängt, doch plötzlich wurde mir bewusst, dass sich die Atmosphäre im Ostal
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