Wintergeister
Vergangenheit immer gewesen. Und zu Beginn schien das auch ihre Absicht zu sein. Sie zogen ab, doch letztendlich kamen sie immer wieder. Sie kamen immer wieder. Es war ein Katz-und-Maus-Spiel.«
Fabrissa richtete ihre Augen auf mich, dann wieder auf den bewaldeten Horizont. »Wir waren die Letzten, verstehst du? Unser Dorf war eine der wenigen noch verbliebenen Hochburgen. Sie konnten uns nicht einfach in Ruhe lassen. Und so warteten wir und warteten. Wir wurden eingeschneit, und wir dachten, nun würden sie endlich abziehen. Aber nichts da. Sie besetzten das Dorf. Unser Dorf.
Die Wochen vergingen. Allmählich verließ uns der Mut. Männer zogen los, um Essen zu holen und andere Vorräte – ein wenig Öl für die Lampen, Kerzen, Feuerholz –, aber es war nie genug. Alle hungerten und froren.«
Sie zögerte, und zum ersten Mal, seit Fabrissa begonnen hatte, ihre Geschichte zu erzählen, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten und wollte sie berühren. Ich versuchte, ihre Hände zu ergreifen, doch ihre Finger waren so kalt, dass ich sie nicht festhalten konnte.
»Jean ging es sehr schlecht. Die Kälte und die Feuchtigkeit krochen ihm in die Knochen. Nachts konnte er nicht schlafen. Er hustete ohne Unterlass, rang nach Luft, würgte. Er brauchte frische Luft und Sonnenschein, genau die Dinge, die wir ihm nicht bieten konnten. Tag für Tag sah ich, wie er schwächer wurde, und ich konnte nichts dagegen tun. Als er starb, war er erst vierzehn Jahre alt.«
Vor Mitgefühl zog sich mir das Herz zusammen. Ich fand es unerträglich, dass auch Fabrissa einen geliebten Bruder verloren hatte, und das unter sehr viel schlimmeren Umständen, als es bei mir der Fall gewesen war. Meine Unkenntnis der genauen Einzelheiten von Georges Tod hatte mich zwar jahrelang gequält, aber es war mir immerhin erspart geblieben, ihn sterben zu sehen. Fabrissa hingegen war bei Jean gewesen. Sie hatte zusehen müssen, wie er ihr entglitt, und nichts tun können, um ihn zu retten. Wie konnte ein Mensch mit solchen Erinnerungen leben?
»Es tut mir sehr leid«, sagte ich leise.
Die Sonne war aufgegangen, stand kalt und weiß am Himmel. Die schwarzen Bäume und die nächtlichen Silhouetten der Berge hatten sich in das Grün und Grau des neuen Tages verwandelt. Jetzt konnte ich in der Ferne Schnee auf dem Gipfel des Roc de Sédour sehen.
Ich zog Fabrissa an mich. Diesmal hielt ich sie fest, obwohl sie sich in meinen Armen fast schwerelos anfühlte, wie Nebel.
»Wir konnten ihn nicht beerdigen«, flüsterte sie. »Die Erde draußen war zu hart, und die Höhle hatte einen Felsboden. So wurde er zu den anderen gelegt, die gestorben waren: Witwe Azéma, die Kinder Bulot. Später dann noch viele mehr.«
Mir stockte der Atem. So lange hatten mich nachts Bilder von George heimgesucht, wie er inmitten von Schlamm und Blut und Stacheldraht starb, Leichengestank in der Nase, seine Männer von Minen und Kugeln in Stücke gerissen, im Gas erstickt. Aber der Gedanke, dass Fabrissa an einem solchen Ort gefangen gewesen war, den geliebten Jean tot neben sich, das war ein Grauen von einer ganz anderen Größenordnung.
»Etwa eine Woche nachdem er gestorben war, ungefähr zur Zeit des Winterjahrmarktes in Espéraza, sahen wir dünne Rauchfahnen über den Bäumen aufsteigen. Und da wussten wir, dass das Dorf brannte. Aus Zorn, uns noch immer nicht ergriffen zu haben, obwohl wir, wie die Soldaten wussten, irgendwo in der Nähe sein mussten, hatten sie alles in Brand gesetzt. Die Kirche, den Ostal, unsere Häuser. Alles wurde zerstört.«
»Fabrissa …« Mehr konnte ich nicht sagen.
»Später, als Tauwetter einsetzte und wir uns allmählich vergessen wähnten, waren wir weniger vorsichtig. Zwei Männer wurden gesehen, als sie nachts in die Höhlen zurückkehrten. Die Soldaten folgten ihnen und stellten Wachposten auf. Dann entdeckten sie einen der Eingänge, und es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch die anderen fanden.« Sie stockte. »Wir hörten sie, wie sie Steine aufhäuften, hörten das Hämmern, als sie das Gestein mit Balken abstützten. Das Licht wurde trüber, dann überfiel uns die Dunkelheit. Was eine Zuflucht gewesen war, wurde zum Grab. Alle Öffnungen waren verschlossen. Wir konnten nicht mehr hinaus.«
Ich spürte Fabrissa aus meinen Armen gleiten. Plötzlich wurde mir schwindelig. Die Übelkeit, die ich bislang unter Kontrolle gehalten hatte, überwältigte mich.
»Niemand kam heraus«, sagte sie. »Nicht einer.«
Ich
Weitere Kostenlose Bücher