Wintergeister
die mich gegen die Ärzte und Schwestern aufbrachte und von der ich geglaubt hatte, sie längst besiegt zu haben.
Die geborgten Stiefel lagen unter dem Tisch. Hatte ich sie abgestreift, als ich ins Zimmer zurückkehrte? Sie sahen tadellos aus. Keinerlei Hinweis darauf, dass sie im Freien getragen worden waren, und ganz sicher nicht im Schnee. An den Spitzen keine Spur der typischen Flecken, die Eis und Nässe hinterlassen. Ich betastete die Aufschläge meiner Hosenbeine. Auch sie waren trocken.
»Hören Sie, ich erinnere mich ganz deutlich daran, dass ich zum Ostal gegangen bin.« Ich sprach langsam, reihte die Wörter sorgfältig eins hinter das andere, wie ein Betrunkener jeden Schritt abwägt, ehe er ihn tut. »Ich habe mich genau an Ihre Wegbeschreibung gehalten. Quer über den Platz, dann die Gasse links neben der Kirche hinunter …«
»Links? Sie hätten rechts gehen müssen.«
Ich redete weiter. »Einerlei, am Ende bin ich auch so angekommen. Allerdings war ich an der Kreuzung ein wenig verwirrt. Sie hatten recht, hinter der Kirche ist das
quartier
tatsächlich ein kleiner Irrgarten, aber dann hab ich mich schnell wieder orientiert …«
»Kreuzung, Monsieur?«
»… und den Ostal problemlos gefunden. Es war schon mächtig was los dort, alle waren für die
fête
verkleidet, genau wie Sie gesagt hatten. Daher könnte es doch sein, dass Sie mich in der Menge einfach übersehen haben, meinen Sie nicht?«
Ihr Gesichtsausdruck fing an, mich zu beunruhigen. Mitfühlend, aber ernstlich besorgt. Einen solchen Ausdruck hatte ich schon einmal gesehen, auf dem Gesicht der Stationsschwester im Sanatorium, an dem Abend, als ich eingeliefert wurde. Eine unerklärliche Kluft, damals wie heute, zwischen der Logik meiner Welt und der der ihren. Ich redete dennoch weiter drauflos.
»Ich bin froh, dass Ihnen bei dem Tumult offenbar nichts zugestoßen ist, Madame Galy. Ich hatte schon Sorge, Sie wären vielleicht verletzt worden.«
»Verletzt, Monsieur?«
»Fabrissa sagte, ich hätte nichts zu befürchten. Gehört wohl zur Tradition der
fête
, nehme ich an, aber ich muss schon sagen, ich bin drauf reingefallen. Es sah ausgesprochen echt aus. Aber das war natürlich erst viel später. Vielleicht waren Sie da schon gegangen.« Mir war bewusst, dass ich zu laut und zu schnell sprach, aber ich konnte mich nicht bremsen. »Ein netter Bursche namens Guillaume Marty hat sich um mich gekümmert und mich anderen Gästen vorgestellt, unter anderem zwei Schwestern …« Ich stockte, versuchte, mich der Namen zu entsinnen. »Und einer Witwe, Na Azéma …«
Madame Galy schwieg. Sie hatte es aufgegeben, mich verstehen zu wollen. Mein Selbstvertrauen bekam einen weiteren Sprung.
»… und einem Ehepaar namens Authier, ja, und einigen anderen Leuten aus dem Dorf. Doch den Großteil des Abends verbrachte ich in Gesellschaft einer bezaubernden jungen Frau.« Ich zögerte, war plötzlich verlegen. »Fabrissa. Kennen Sie sie?«
Ich erhaschte Madame Galys Blick und sah Mitleid in ihren Augen. Eine stechende Erinnerung an Mutter in jenem Restaurant am Piccadilly und den gänzlich anderen Ausdruck in ihrem Gesicht. Kein Mitleid, sondern Ekel. Ich blinzelte, wütend darüber, dass mir eine solch wertlose Erinnerung, bloß eine von vielen dieser Art, noch immer wehtat.
Ich versuchte es erneut. »Eine eindrucksvolle Erscheinung, langes dunkles Haar, das sie offen trägt. Blasser Teint. Überaus aparte graue Augen. Sie müssen sie kennen.«
Madame Galy trat von einem Bein aufs andere. »Ich kennen niemanden, der so heißt«, sagte sie.
»Tja. Nun, vielleicht kam sie in Begleitung eines anderen Gastes?«
Noch ehe ich den Satz zu Ende gesprochen hatte, wusste ich, dass das höchst unwahrscheinlich war. Wenn Fabrissa mit jemand anderem gekommen wäre, hätte sie dann den ganzen Abend mit mir geredet? Hätte sie das Fest mit mir verlassen?
»Vielleicht ja doch«, murmelte ich vor mich hin. »Falls sie mich angenehm fand.«
Mir fiel noch etwas ein, eine Art Beweis.
»Mein Mantel«, sagte ich heftig. »Ich hab ihn im Vorraum vom Ostal gelassen. Als die Schlägerei losging, wollte ich möglichst schnell weg und hab ihn in der Eile vergessen. Er muss noch dort sein.«
Sie blickte mich unverwandt an. »Ihr Mantel hängt unten neben der Haustür am Haken, wo ich ihn selbst gestern Abend zum Trocknen hingehängt habe.«
»Nun, dann hat ihn wohl jemand für mich hergebracht«, entgegnete ich, obwohl ich in Wahrheit schon innerlich
Weitere Kostenlose Bücher