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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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kapituliert hatte. Ich verstand gar nichts mehr. Madame Galys Beweise widersprachen meinen Erinnerungen an den Abend. Was sollte ich da noch sagen?
    »Bestimmt hat Fabrissa ihn gefunden und hergebracht«, stammelte ich. Wo war sie jetzt?
    Ich fröstelte. Plötzlich schmerzten mich die Füße auf den kalten Dielenbrettern. Ich schlang die Arme um mich, spürte die Rippen unter der dünnen Tunika.
    Madame Galy legte einen Arm um mich. »Sie sollten sich hinlegen, Monsieur.«
    »Irgendwer muss sie kennen«, sagte ich, ließ mich aber von ihr anstandslos vom Stuhl Richtung Bett bugsieren. Sie wandte sich ab, als ich meine Hose auszog, dann hob sie die Daunendecke an, und ich legte mich gehorsam darunter.
    Wie leicht ich wieder in die Rolle des Patienten schlüpfte. Die Daunendecke war in gesteppte Kassetten unterteilt, ihr Stoff glänzte und hatte die Farbe von Nikotin. Sie zog sie mir bis unters Kinn und klopfte sie zurecht. Wo war Fabrissa? Bruchstücke unseres Gesprächs fielen mir wieder ein, die grauenhafte Tragödie, die ihrer Familie widerfahren war.
    »Hat es hier während des Krieges viele Kampfhandlungen gegeben?«, fragte ich.
    Falls Madame Galy von diesem unvermuteten Themenwechsel verblüfft war, so ließ sie es sich nicht anmerken. Heute ist mir natürlich klar, dass sie mich nicht noch mehr verstören wollte. Wie die Ärzte und Schwestern im Krankenhaus. Regel Nummer eins: Tu nichts, was einen Patienten provozieren oder aufwühlen kann.
    »In Le Vernet gab es ein Lager Kriegsgefangene der Deutschen«, erwiderte sie. »Aber das ist ein ganzes Stück entfernt.«
    »Ich meinte eigentlich mehr, ob deutsche Truppen hier im Gebiet operiert haben? Inoffizielle Einsätze.«
    Sie beugte sich über mich und strich die Tagesdecke glatt. Emsige, emsige Hände.
    »Wir haben viele unserer jungen Männer bei den Kämpfen im Norden verloren. Monsieur Galy und ich …« Sie verstummte, und ganz kurz flackerte nackter Schmerz in ihren Augen auf, ehe sie ihn verbergen konnte. Zu meiner Schande fragte ich nicht weiter nach. Erst später sollte ich erfahren, was ihr widerfahren war. Ihrer Familie.
    »Keine marodierenden Einheiten?«
    »Nein, Monsieur. Hier hat es keine Kampfhandlungen gegeben.«
    Ich sank zurück in das Kissen. Fabrissas Schilderung des Überfalls auf das Dorf, wie sie alle in die Berge geflohen waren. Ihr Bruder. Das waren deutliche Erinnerungen an reale Erlebnisse gewesen.
    »Dann ist Nulle selbst nie angegriffen worden? Keine Überfälle, keine Evakuierung, nichts?«
    »Nein.«
    Hatte ich da irgendwas falsch verstanden? Das war zweifellos möglich. War es überdies möglich, dass ich Fabrissas Geschichte mit meiner eigenen vermischt hatte? Auch diese Frage musste ich wohl mit Ja beantworten. Ich schloss die Augen. War ich ein Mann, der Wahres von Falschem unterscheiden konnte? Das hatte Fabrissa mich am Vorabend gefragt. In dem Moment war ich mir sicher gewesen. Aber jetzt? Jetzt war ich mir nicht mal mehr sicher, ob sie die Frage überhaupt gestellt hatte.
    »Aber es ist so ein trauriger Ort«, hörte ich mich sagen. »Als ich hier ankam, hab ich etwas gespürt, einen Schatten, der über dem Dorf hängt.«
    Madame Galy, die inzwischen mein Zimmer aufräumte, erstarrte.
    »Gestern Abend im Ostal war das anders«, sprach ich weiter. »Da wirkten alle so fröhlich – zumindest bis der Streit losging.«
    Als wäre ein Schalter umgelegt worden, begann sie wieder, sich zu beschäftigen. Noch immer sagte sie nichts. Sie schob den Stuhl unter den Tisch und hängte meine Hose über den Wäscheständer.
    »Brauchen Sie sonst noch etwas, Monsieur?«
    Mir fiel nichts ein. Aber ich merkte, dass ich wünschte, sie würde bleiben. Ihre Anwesenheit tat mir gut.
    »Ich bedaure, dass ich Ihnen so viele Umstände mache …«
    »Das tu ich doch gern, Monsieur.« Sie nahm die leere Likörflasche und das Glas und stellte beides auf das Tablett. »In einer Stunde oder so schau ich wieder nach Ihnen«, sagte sie. »Sie sollten jetzt schlafen.«
    Ich war müde, unglaublich müde. Vielleicht wirkte ja bereits der Schlaftrunk, den sie mir verabreicht hatte.
    »Wenn Sie sich wieder kräftig genug fühlen, steht Ihnen Michel Breillac zur Verfügung, der etwas von Automobilen versteht. Er wird Ihnen helfen.«
    »Danke«, murmelte ich, aber sie war schon gegangen, hatte die Tür angelehnt gelassen. Ich lauschte auf das Trapsen ihrer Holzschuhe, die sich über den Korridor und dann die Treppe hinunter entfernten. Der Klang war

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