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Wintergeister

Wintergeister

Titel: Wintergeister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Mosse
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Tagesanbruch an den Weiher gesetzt hatten und sie begonnen hatte, mir ihre Geschichte zu erzählen.
    Eine Geschichte von Verlust und Trauer.
    Oder?
    Ich sprang vom Stuhl auf und durchmaß den Raum mit großen Schritten. Ich riss das Fenster heftig auf, so dass beide Flügel gegen die Wand schlugen, und beugte mich so weit hinaus, wie ich mich traute. Ich musste die Stelle am Hang sehen, an der wir gesessen hatten. Musste mir beweisen, dass es sie gab. Eisige Luft strömte ins Zimmer und umhüllte mich, obwohl ich glaube, dass ich sie nicht spüren konnte.
    Madame Galy legte mir eine Hand auf den Arm. »Monsieur, bitte, schließen Sie das Fenster. Sie werden noch krank!«
    »Da oben«, sagte ich und gestikulierte in Richtung des Hanges. »Da oben sind wir gewesen.«
    Ich sah die Sorge in ihrem gütigen Gesicht und wollte sie gerade beruhigen, als mir die Beschaffenheit des Lichtes im Raum bewusst wurde. Die Place de l’Église war mit einer dünnen Schneeschicht überpudert.
    »Wann hat es angefangen zu schneien?«
    »In den frühen Morgenstunden, Monsieur. Gegen drei oder vier.«
    Ich wirbelte herum und starrte sie an. »Sie müssen sich irren. Es hat ganz sicher nicht geschneit, als ich zurückkam, und das war um …« Ich verstummte, denn ich konnte mich wahrhaftig nicht mehr erinnern. »Ich weiß es nicht genau«, räumte ich ein. »Aber es war schon hell.«
    Für Schnee war es nicht kalt genug gewesen, sagte ich mir, doch mein Selbstvertrauen schwand schnell dahin. Ich betrachtete meine dünnen, nackten Unterarme. Ich hatte Gänsehaut, und meine Knöchel, die auf die Fensterbank drückten, standen bläulich vor.
    »Es muss später gewesen sein«, beharrte ich und deutete auf den unberührten Schnee unter meinem Fenster. »Sehen Sie, keine Fußspuren! Es kann erst nach meiner Rückkehr angefangen haben zu schneien.«
    »Monsieur, Sie sollten sich ausruhen«, sagte sie sanft. Es war klar, dass sie mir nicht glaubte. Plötzlich mutlos, trat ich vom Fenster zurück und ließ zu, dass Madame Galy es fest schloss. Die Angeln quietschten, und ein bisschen Schnee fiel vom Rand auf den Boden unter der Fensterbank. Dann schloss sie auch noch die Läden, sperrte die Welt aus. Der Metallhaken rastete scheppernd ein.
    »Sie müssen mich doch gehört haben, als ich zurückkam«, beharrte ich.
    Madame Galy seufzte. »Die Frage ist nicht bloß, wann es begonnen hat zu schneien«, sagte sie, obwohl ihr schon dieses Eingeständnis offensichtlich schwerfiel.
    »Wie meinen Sie das?«
    Sie zögerte, wählte dann ihre Worte überaus sorgfältig. »Monsieur, sind Sie sicher, dass Sie das Haus überhaupt verlassen haben? Ich habe Sie gestern Abend nicht im Ostal gesehen. Keiner von den anderen Gästen hat Sie gesehen. Ich fürchtete schon, Sie könnten sich verlaufen haben.«
    »Aber das ist … lächerlich.«
    »Ich hab mir gesagt, Sie haben es sich bestimmt anders überlegt und wollten bei der Kälte keinen Schritt mehr vor die Tür gehen. Erst heute Morgen, als Sie nicht herunterkamen, hab ich mir allmählich Sorgen gemacht, dass Sie vielleicht nicht wohlauf sind.«
    Ich merkte, dass ich mich kaum auf den Beinen halten konnte. Um mein Taumeln zu kaschieren, lehnte ich mich mit einer Schulter gegen die Wand. Die Tapete war alt, ein sich wiederholendes Muster aus blauen und hellroten Wiesenblumen, streifenweise verblasst, wo die Sonne die Farbe ausgebleicht hatte.
    »Monsieur, bitte«, sagte sie. »setzen Sie sich doch!«
    Ich verschränkte die Arme. »Ich erinnere mich ganz deutlich, dass ich die Tunika angezogen habe.« Ich blickte an mir hinab.»
Diese
Tunika und die Stiefel. Ich hab unten an der Rezeption einen Brief aufs Pult gelegt und bin nach draußen gegangen. Um genau zehn Uhr.« Ich hielt inne. »Haben Sie den Brief gefunden?«
    »Das habe ich«, sagte sie zurückhaltend, »aber ich dachte, Sie hätten ihn dort hingelegt und wären dann zurück auf Ihr Zimmer gegangen. Monsieur Galy sagt, er hat nicht gehört, dass Sie weggingen.«
    Darauf hatte ich keine Antwort. Sie war offensichtlich zunehmend besorgt um meinen Geisteszustand. Vielleicht glaubte sie, ich wäre noch betrunken und würde unter den Nachwirkungen meines Unfalls am Vortag leiden. Ihr Blick glitt für einen Moment von meinem Gesicht ab und kehrte sofort wieder zurück, als gäbe es etwas, von dem sie nicht wollte, dass ich es bemerkte. Zu spät, zu langsam, höhnte die Stimme in meinem Kopf. Jene hämische Stimme, die ich im Sanatorium so oft gehört hatte,

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