Wintergeister
Aber ich wollte Madame Galy nicht noch einmal belästigen, weil ich fürchtete, sie würde erneut versuchen, mich davon abzubringen, die Breillacs zu begleiten.
Ich kleidete mich an und schlüpfte in meine Fitwell-Stiefel. Das robuste alte Leder hatte sich in der Wärme des Kaminfeuers zusammengezogen, aber sie saßen trotzdem noch bequem. Ich angelte mein Zigarettenetui samt Streichhölzern aus der Hosentasche, riss dann die Fenster auf und blickte hinaus auf die weiße Place de l’Église.
Wieder schob ich die Hand in die Tasche. Nichts. Ich legte meine Zigarette behutsam auf der Fensterbank ab. Ich hätte schwören können, dass ich das gelbe Stoffkreuz in die Tasche gesteckt hatte, nachdem Fabrissa sich geweigert hatte, es zurückzunehmen. Ich suchte in der anderen Tasche, aber auch die war leer. Bloß Fusselkügelchen und ein abgebranntes Streichholz.
Hatte ich es auf dem Nachhauseweg verloren? Da ich überhaupt keine Erinnerung daran hatte, wie ich zurück zur Pension gekommen war, schien mir das die plausibelste Erklärung, obwohl ich enttäuscht war.
»Einerlei«, sagte ich mir und schloss das Fenster.
Ich war mir nämlich sicher, dass ich Fabrissa finden würde.
Die Brüder Breillac
B eim zehnten Schlag der Standuhr war ich unten an der Rezeption.
Monsieur Breillac und seine beiden Söhne warteten bereits, und wir wurden einander rasch vorgestellt. Guillaume und Pierre Breillac waren Zwillinge von etwa achtzehn oder neunzehn Jahren. Sie trugen Pelzmützen, die unter dem Kinn zugebunden waren und ihre Gesichter fast vollständig verbargen. Sie sahen sich so ähnlich, dass ich sie kaum unterscheiden konnte, bis sich herausstellte, dass Guillaume ganz passabel Englisch sprach, Pierre dagegen nicht. Monsieur Breillac sagte nichts, sondern nickte nur zur Begrüßung, und in seinem Blick bemerkte ich die gleiche Traurigkeit, die Monsieur Galys Augen ebenso umschattete wie die von Madame Galy, wenn sie sich unbeobachtet glaubte.
Sie hielt es nach wie vor für unklug, dass ich mitgehen wollte, aber als sie mich nicht davon abbringen konnte, holte sie mir eine Pelzmütze und einen Schal sowie ein Paar dicke Handschuhe.
»Bitte richten Sie Monsieur Galy meinen Dank für die Leihgabe aus«, sagte ich. »Sie passen perfekt.«
»Die sind nicht von meinem Mann«, sagte sie leise. Ich sah, dass die Breillac-Jungen und ihr Vater Blicke wechselten, aber niemand sagte etwas, also genoss ich ohne Kommentar das weiche Fellfutter an den Händen und dachte nicht weiter darüber nach.
Guillaume gab den Dolmetscher, da mein Französisch, obwohl ansonsten einigermaßen ausreichend, nicht solche Fachausdrücke umfasste wie Antriebswelle oder Trittbrett. Mit einer Mischung aus Zeichensprache und holpriger Übersetzung klärten wir, wo der Wagen sein könnte und wie groß ich den Schaden einschätzte.
Etwa fünfzehn Minuten nach zehn machten wir uns unter einem blauen, wolkenlosen Himmel auf den Weg. Als wir die Place de l’Église überquerten, spürte ich, wie die Schönheit des Platzes mir das Herz weitete. Dieselbe alte Welt, aber mit neuen Augen gesehen. Eine weiße Wintersonne hing tief am Himmel, und der Tag war strahlend, aber kalt.
Monsieur Breillac legte Guillaume eine Hand auf den Arm und sprach schnell in der heimischen Mundart. Ich wartete, bis Guillaume übersetzte. Sein Vater schlug vor, durch den Wald zur Straße hochzuwandern, weil es mit dem
charreton
zu riskant sei. Ein Karren für zwei Personen, der von einem Esel gezogen wird, erklärte er, als er meine hochgezogenen Augenbrauen sah. Sein Vater sagte, die Straße sei vereist, man komme auf ihr nicht nur mühsam voran, es sei auch gefährlich. Die durch die Bäume geschützten Waldpfade böten dagegen eine größere Trittsicherheit. Aber nur, wenn ich die erforderliche Ausdauer hätte.
Nachdem ich so elend krank gewesen war, wundern Sie sich vielleicht über meine Arroganz. Oder gar Dummheit. Tatsächlich wundere ich mich selbst darüber, auch heute noch. Aber rückblickend kann ich nur sagen, ich wusste, dass ich die Kraft hatte, die ich brauchte. Das Fieber war durch mich hindurchgegangen und hatte eine nervöse Energie und eine Entschlossenheit zurückgelassen, die mir lange Zeit gefehlt hatten.
Ich stimmte Breillacs Vorschlag also bereitwillig zu. Ich war sogar davon begeistert. Als wir an dem Weiher saßen, hatte Fabrissa mich aufgefordert, sie zu suchen und zu finden. Und in diesen Bergen hatte ich erstmals ihre Stimme gehört.
Über Nacht
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