Winterlicht
nächsten Morgen die Hügel von Osteria. In der Mitte der Reisegesellschaft ritt die Königin auf Finnikins Pferd. Manchmal spürte er, wie sie hinter ihm weinte, und er wusste, sie weinte seinetwegen ebenso wie ihretwegen. Niemand wusste, was sie im Tal erwarten würde, und er spürte Isaboes Angst, denn sie klammerte sich von Mal zu Mal fester an ihn. Sie hatte kräftige Hände, das war ihm schon damals aufgefallen, als sie in Sarnak zusammen das Pferd gestohlen hatten. Sie würde auch kräftige Hände brauchen, um ein Königreich zu regieren. Und um Menschen zu heilen. Zu ihrer Rechten und Linken ritten Saro und Lucian, und vorneweg ritten die Yata, Sir Topher und Froi. Alle schwiegen. Keiner hatte Lust zu reden, dazu stand zu viel auf dem Spiel. Die Monts würde es große Opfer kosten, ins Reich Lumatere einzudringen. Selbst wenn ihre Königin am Leben blieb, würden sie sicher viele Soldaten verlieren. Zehn Jahre lang hatten sie ihr Volk vor jedem Schaden bewahrt, und jetzt würden Saro und seine Leute die Ersten sein, die hinter der Garde das Tor von Lumatere durchschritten.
Kurz bevor sie das Tal erreichten, blieb Finnikin stehen. Sie ritten gerade auf einem schmalen Pfad, rechts und links von ihnen glänzten die Kornfelder.
„Komm!“, sagte er zu Lucian. „Saro, kannst du in der Zwischenzeit auf die Königin aufpassen? Es wird nicht lange dauern.“
Sie fasste nach seiner Hand. „Lass mich mitkommen, Finnikin.“
„Du bist hier sicherer“, erwiderte er sanft.
Lucian folgte ihm mitten in die Felder und Finnikin legte ohne Umschweife los. „Du musst mir etwas schwören“, sagte er, als er sicher war, dass niemand sie hören konnte.
„Aber ich werde mir bestimmt nichts aus dem Oberschenkel rausschneiden.“
„Wir haben jetzt keine Zeit zu streiten. Schwöre mit deinem Blut bei der Göttin.“
„Bei Lagrami oder Sagrami?“
„Bei der Göttin mit den zwei Gesichtern.“ Finnikin holte seinen Dolch hervor und reichte ihn Lucian. Dieser betrachtete die Waffe kurz, ehe er sich damit in den Arm schnitt. Dann gab er Finnikin den Dolch zurück und wartete darauf, dass auch er sich ritzte, aber Finnikin schüttelte den Kopf.
„Nur du.“
„Was auch immer es sein mag, wir schwören gemeinsam“, widersprach Lucian sofort.
„Schwöre, dass du mich töten wirs t …“
Lucian wich entsetzt zurück. „Du verlangst zu viel.“
Finnikin packte den Mont am Kragen. „Schwöre, dass du mich tötest, falls ich für die Königin zur Gefahr werde.“
Lucian riss sich los. „Ich werde jeden töten, der die Königin bedroht“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
„Schwöre es, Lucian. Bitte.“
„Ein Blinder sieht, was sie für dich empfindet und was du für sie empfindest. Eure Seelen umarmen einander nicht nur, sie sind vereint. Das bringt dich in Gefahr, Finnikin. Warum sagst du ihr nicht einfach, dass du sie liebst, und dann tut ihr so, als würdet ihr ein ganz normales Leben führen, so wie wir anderen Normalsterblichen auch?“
„Schwöre es! Ich flehe dich an als meinen Blutsbruder.“
Lucian schnitt mit dem Dolch in Finnikins Arm. „Das ist der Schwur von Balthasar“, sagte er kraftvoll. „Ich werde die königliche Familie von Lumatere beschützen: die Königin“, er sah Finnikin an, „und den Mann, den sie zu ihrem König erwählt.“
Froi lehnte den Kopf an Finnikins Pferd. Es stand neben der Königin. Sie saß da und wartete sehnsüchtig darauf, den Hauptmann, Perri und Moss wiederzusehen. Dann würden alle durcheinanderreden und Befehle geben, und Froi hätte dann die Gewissheit, dass wieder alles so war wie früher. In der Nacht zuvor hatte er mit angehört, wie sich ein paar junge Männer der Monts über Finnikin und die Königin unterhielten. Es machte ihn wütend, dass sie von ihr nur noch als „die Königin“ sprachen, als sei sie gar kein Mensch aus Fleisch und Blut mehr. Die jungen Monts sinnierten darüber, welch große Macht man wohl brauchte, um den Fluch am Haupttor zu brechen. Einer von ihnen nannte Finnikin einen Höhlenmenschen, und Froi hätte ihnen am liebsten gesagt, dass er Finnikin schon für zwei habe kämpfen sehen und dass er flinker war als sie alle zusammen. Dann sagte ein anderer Mont im Flüsterton, dass Finnikin oder die Königin wahrscheinlich am Tor von Lumatere sterben würden, weil der Fluch so mächtig sei. Vermutlich würde Finnikin das Opfer sein, denn er war nicht an die dunkle Kraft des Banns gewöhnt. Aber Froi wusste es besser: Der
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