Winterlicht
verschwiegen?
„Wir haben gehört, dass nirgendwo so gute Menschen leben wie in Pietrodore“, sagte Finnikin. „Sonst gibt es wohl keine Stadt, die nicht von Blutvergießen und Leid gezeichnet ist. Aus Liebe zu dieser jungen Frau würde ich jeden Winkel dieses Landes, ach was, jeden Winkel der Erde bereisen, um einen Ort zu finden, an dem niemand sie zeichnen will.“
Evanjalin kniete vor dem größeren der beiden Soldaten. Diesem schien gar nicht wohl zumute, denn er trat unruhig von einem Bein aufs andere.
Finnikin wusste nichts von den Bewohnern der Stadt. Vielleicht hatte man sie jahrhundertelang verfolgt, weil sie an dieser heiß umkämpften Grenze wohnten. Vielleicht hatten die Soldaten die Last ihrer Vorfahren zu tragen. Aber hier kniete ein junges Mädchen zu ihren Füßen, das man als Sklavin gebrandmarkt hatte, und kein anderes Land hatte so viele seiner Kinder an die Sklaverei verloren wie Yutlind.
Der vierschrötige Mann streckte die Hand aus und bedeckte Evanjalins Schulter wieder, dann half er ihr aufzustehen. Mit einem Kopfnicken winkte er die Wartenden in die Stadt.
Feierlich schritten sie durch das Tor. Evanjalin ging zwischen Sir Topher und Froi voraus, Finnikin folgte ihnen. Als sie stolperte, stützte sie Trevanion. Einen Augenblick lang hielt er ihren Kopf schützend in beiden Händen, ehe er sie wieder losließ.
Die Hauptstraße war so breit, dass Pferde und Wagen aneinander vorbeikamen. Auf beiden Seiten säumten sie Geschäfte, in denen Stiefel, Rüstungen und Schilde in allen Farben feilgeboten wurden. Kleine Gässchen führten rechts und links zu blumengeschmückten Häuschen. Und von überall sah man die niedrige Stadtmauer und dahinter Yutlind.
Die Straße führte auf einen großen Platz. Die Sandsteinmauern der Häuser waren mit Kletterrosen bewachsen, die verschwenderisch blühten und dufteten. Evanjalin blieb stehen und bewunderte die Pracht. Finnikin hatte sich an ihre einfache Kleidung gewöhnt. Dass sie die Farbenfülle bestaunte, berührte ihn, und er fragte sich, was für ein Mädchen sie wohl früher gewesen war. Hatte sie auch davon geträumt, sich Blüten ins Haar zu stecken und den feinen Duft des Geißblatts auf der Haut zu tragen?
Sie gingen weiter, bis sie den höchstgelegenen Platz der Stadt erreichten, von dem aus sie die vier bekannten Felsendörfer in Yutlind Süd sahen. Weit unten schlängelte sich der Fluss dahin und in der Ferne ragte ein weiteres Felsendorf auf. Die Landschaft zeigte sich üppig in verschiedenen Grüntönen, vom dunklen Moosgrün bis hin zum hellen Grün der Blätter, all das vor dem braunen Hintergrund der gepflügten Felder.
„Sie sind hier“, murmelte Trevanion. „Ich weiß es.“
„Weil diese Gegend fast ein Abbild von Lumatere ist?“, fragte Sir Topher.
„Ja.“ Ein Lächeln huschte über Trevanions Gesicht. „Meine Männer waren schon immer eine gefühlsduselige Bande. Ich konnte mir nie vorstellen, dass sie in einem Zeltlager leben.“
„Vielleicht sollten wir diese Stadt für unsere Landsleute in Beschlag nehmen“, scherzte Finnikin. „Das würde Yutlind noch einen weiteren Kriegsgrund geben.“
Trevanion ließ den Blick noch einmal über die Landschaft schweifen, die Lumatere so ähnelte.
„Wie sieht unser Plan aus?“, fragte Sir Topher.
„Finnikin und ich werden Zimmer für die Nacht suchen“, antwortete Trevanion. „Evanjalin, du gehst mit Sir Topher und besorgst Essen und Nachschub. Sprecht wie Yuts, nicht wie jemand aus Lumatere. Froi, du bleibst hier und machst keinen Ärger. Wir sind bald zurück.“
„Ich bete zu Lagrami, dass ihr mit guten Nachrichten wiederkommt“, sagte Sir Topher.
Finnikin folgte seinem Vater zum Gasthaus. Die wenigen Männer, die dort saßen und tranken, starrten die beiden Fremden misstrauisch an. Aus der Küche kam Bratengeruch. Finnikins Magen begann zu knurren.
„Wir suchen unsere Freunde; sie wohnen hier“, sprach Finnikin den Wirt an, der hinter dem Tresen Gläser trocken wischte. „Sie sind nicht aus der Gegend.“
„Hier sind sie nicht“, knurrte der Mann mürrisch, ohne den Kopf zu heben.
Finnikin warf Trevanion einen Blick zu, der diese Antwort auch ohne Übersetzung verstanden hatte.
„Habt ihr dann vielleicht für uns einen Platz zum Ausruhen?“, fuhr Finnikin fort. „Wir sind weit gereist.“
Ein Kartenspieler kam von einem der hinteren Tische an den Tresen und pflanzte sich so dicht vor Finnikin auf, dass er sich einen finsteren Blick von Trevanion
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