Winterlicht
nicht, was sie dir angetan hat, damals, als ihr noch Kinder wart, Perri. Was deine Sippe ihr Böses getan hat, bleibt unvergessen. Aber ich bin sicher, Tesadora ist dir für immer dankbar, dass du Sagramis Novizinnen in jener Nacht versteckt hast. Du magst es glauben oder nicht.“
Perri war wie vom Donner gerührt. Er sah Finnikin an und in seinem Blick lag ein ganzer Ozean von Gefühlen. Aber nur für einen kurzen Moment. Was, so fragte sich Finnikin, hatte der Stellvertreter seines Vaters während der Fünf Tage des Unsagbaren getan, dass er so viel Liebe und Stolz, aber auch so viel Scham verspürte? Wie viele Geschichten fehlten noch im Buch von Lumatere?
Am frühen Abend kamen sie an einem Schild vorbei, das den Weg nach Lastaria wies. Die Stadt war einen halben Tagesritt von der Hauptstadt Belegonias entfernt. Moss saß rittlings auf seinem Pferd und wartete auf sie.
„Es gibt Schwierigkeiten“, sagte er ernst, während sein Pferd Trevanions Reittier umtänzelte.
„Der Priesterkönig?“, fragte Evanjalin besorgt.
„Er ist wohlauf“, beruhigte Moss sie. „Aber die Reise war mühsam, unterwegs sind mindestens zehn Leute am Fieber gestorben.“
Finnikin spürte, wie Evanjalin, die hinter ihm saß und sich an ihm festhielt, bei diesen Worten ein Schauer überlief.
„Es kommt noch schlimmer. Als die Leute aus dem Lager in der vergangenen Woche hier eintrafen, kamen sie an einem anderen, kleinen Flüchtlingslager vorbei.“
„Wie kommt es, dass wir nichts davon wissen?“, fragte Sir Topher.
„Die Leute wollten nicht gefunden werden. Es sind mindestens dreißig Menschen, und sie weigern sich, mit uns zusammen ins Tal zu ziehen.“
„Dann brechen wir eben ohne sie auf“, sagte Trevanion.
„Das wird nicht so einfach gehen. Der Priesterkönig will sie nicht im Stich lassen.“
„Und was ist mit den anderen?“, fragte Evanjalin. „Den Vertriebenen aus Sorel?“
„Sie sind mit Aldron zusammen auf dem Weg ins Tal.“
Trevanion fluchte laut. Die Sonne ging schon unter, und sie wollten noch vor Mitternacht in Belegonia sein.
„Wir können ihn nicht zurücklassen, Hauptmann“, sagte Evanjalin.
Trevanion wendete sein Pferd widerstrebend. „Nein, aber wir werden ihn davon überzeugen müssen, dass er die anderen zurücklässt.“
Im Licht des Halbmonds ritten sie in Lastaria ein. Moss gab einem Stalljungen ein Silberstück, damit er auf die Pferde achtgab; ein zweites versprach er ihm bei ihrer Rückkehr. Dann führte er sie auf einer abschüssigen, gepflasterten Straße mitten in die Stadt hinein. Finnikin hörte den nächtlichen Trubel schon von Weitem. Die Luft trug Musik und Stimmengewirr zu ihnen, auf den Straßen brannte eine Laterne neben der anderen. In Lastaria ging es nicht so kultiviert zu wie in der Hauptstadt Belegonias; hier herrschte eine ungezügelte Ausgelassenheit, die ihre Sinne bedrängte.
Auf dem großen Platz fiedelten und pfiffen die Spielleute und erfreuten ihr Publikum, das ausgelassen tanzte. Liebespaare umarmten sich. Ein Händler jonglierte mit seinen Früchten. Aber Finnikins Herz wurde schwer, als er Moss zu einem Lagerplatz jenseits des Marktes am anderen Stadtrand folgte.
Auf ihrem Weg dorthin kamen sie an Ständen vorbei, wo verzierte Dolche und Schwerter feilgeboten wurden. Beim Anblick der kunstvollen Waffen glänzten Frois Augen, aber Perri zerrte ihn weiter.
Das Lager bestand aus drei großen Fuhrwerken. Etwa dreißig Männer, Frauen und Kinder standen um ein Lagerfeuer herum. Finnikin sah die Not in ihren Augen, spürte die Angst, die sie beim Anblick von Trevanion und seinen Leuten befiel. Er suchte den Priesterkönig. Der heilige Mann war dünner und gebrechlicher als bei ihrer letzten Begegnung. Perri kniete vor ihm nieder. Die Hand des Priesterkönigs zitterte, als er Perri mit dem Daumen über die Stirn strich.
„Ich kann sie nicht zurücklassen“, sagte er leise, als er alle gesegnet hatte. „Sie haben keine Göttin, kein Königreich, kein Volk, zu dem sie gehören, sie haben nur sich selbst.“
„Vielleicht sind sie ja damit zufrieden“, sagte Finnikin.
Der Priesterkönig schüttelte den Kopf. „Habt ihr ihre Augen gesehen?“ Er blickte vorbei an Finnikin auf Evanjalin. „Diese schreckliche Leere?“
„Verehrungswürdiger Barakah, unser Volk wartet im Tal auf uns“, sagte Evanjalin. „Es wartet auf Euch, damit Ihr es anführt, gemeinsam mit dem Hauptmann, mit Sir Topher und Prinz Balthasar.“
„Weshalb wollen sie
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