Winterlicht
hierbleiben?“, fragte Finnikin.
Der Priesterkönig folgte seinem Blick dorthin, wo die Vertriebenen beieinanderstanden. „Sie stammen aus dem Dorf Ignatoe am Osttor von Lumatere. Während der Fünf Tage des Unsagbaren suchten die Waldbewohner Zuflucht bei ihnen. Aber die Einwohner von Ignatoe vertrieben sie, jagten sie bis hinter die Mauern des Königreichs.“ Der Priesterkönig seufzte. „Diese Menschen haben mit angehört, wie die Waldbewohner in ihren Hütten verbrannten. Die Schuld, die sie auf sich geladen haben, hält sie hier zurück, und kein Bitten kann sie umstimmen.“
Finnikin ging mit Evanjalin auf das Lagerfeuer zu, wo ein junges Mädchen mit starrer Miene stand; es hielt eine Bratpfanne in der Hand. Finnikin schätzte, dass sie während der Fünf Tage des Unsagbaren höchstens fünf Jahre alt gewesen sein konnte. Als Evanjalin weitergehen wollte, stellten sich ihr ein älterer Mann und eine Frau in den Weg. Ein kleines Kind klammerte sich an den Rockschoß der Frau. Aus der Nähe betrachtet kamen sie Finnikin jünger vor, als er zunächst gedacht hatte. Ihr hartes Leben, nicht die Jahre hatten sie altern lassen.
Evanjalin bückte sich und streckte die Hand nach dem Kind aus. Das Mädchen war vielleicht zwei, drei Jahre alt, seine Haut war gebräunt, das Haar fahlblond. „Wie heißt du denn?“, fragte Evanjalin mit belegter Stimme. Sie hatte es in der Sprache Lumateres gesagt, aber das Kind starrte sie nur verständnislos an. Sein Blick war genauso leer wie der Blick der Kinder in den Fieberlagern, obwohl es weder krank war noch Hunger zu leiden schien. Evanjalin wollte das kleine Mädchen auf den Arm nehmen, aber der Mann stieß Evanjalin so grob zurück, dass sie taumelte.
Finnikin zückte sein Schwert. Aber er war nicht schnell genug, um Froi davon abzuhalten, dem Mann ins Gesicht zu spucken. Perri zerrte den Dieb an den Haaren weg. Der Mann packte das Kind und hob es zu sich hoch, sodass Finnikins Schwert, ohne dass er es wollte, auf einmal direkt vor dem Gesicht des Mädchens war. Evanjalin legte ihm die Hand auf den Arm und er ließ die Waffe sinken.
„Wir wollen euch nichts tun“, sagte Finnikin leise in Lumaterisch. Beim Klang ihrer Muttersprache zuckten die Flüchtlinge zusammen.
Evanjalin tat einen Schritt auf das Lagerfeuer zu, dann noch einen, bis sie vor dem jungen Mädchen mit der Pfanne stand.
„Darf ich?“, fragte sie und griff nach einem kleinen Stückchen Fleisch, das in der Pfanne lag. Noch ehe das Mädchen antworten konnte, hatte sich Evanjalin das Fleisch schon in den Mund gesteckt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Und man hörte, dass es ihr schmeckte. Das Mädchen wurde ein wenig zutraulicher.
„Wie heißt du?“, fragte Evanjalin.
Das Mädchen blickte zu seinem Vater, dann schaute er auf den Boden. „Es spielt keine Rolle, wie ich heiße“, antwortete sie in gebrochenem Belegonisch.
„Es spielt sogar eine große Rolle“, widersprach Evanjalin.
Finnikin sah, wie das Mädchen zitterte. Nachdem sie ihr ganzes Leben in der Verbannung zugebracht hatte, musste die Hoffnung in Evanjalins Augen unwirklich erscheinen.
„Wir gehen nach Hause“, sagte Finnikin. „Nach Lumatere. Wir hoffen, dass alle, die zu uns gehören, mit uns kommen werden.“
Niemand antwortete ihm.
„Wir wollen nur, dass ihr zusammen mit uns ins Tal der Stille reist. Zusammen mit der Königlichen Garde. Mit dem Hauptmann. Mit unserem verehrungswürdigen Barakah. Und mit dem Obersten Ratgeber des Königs“, fuhr Finnikin fort.
„Und was haben wir zu erwarten, wenn wir mitkommen?“, fragte der Mann. „Eine Gefängniszelle? Ein Leben als Verfolgte?“
„Niemand wird ins Gefängnis geworfen“, rief Trevanion laut dazwischen. „Haben wir alle denn nicht genug gelitten?“
„Wir bieten euch an, was euren Kindern von Rechts wegen zusteht: das Königreich“, sagte Finnikin.
„Hier haben unsere Kinder alles, was sie brauchen“, sagte der Mann verbittert.
„Das hier ist ein sumpfiges Loch“, blaffte Finnikin. „Und dies“, er deutete auf eines der Fuhrwerke, „wurde gebaut, um Rinder und Pferde zu transportieren, nicht um Menschen zu beherbergen.“
„Wir tun, was wir schon immer getan haben“, sagte die Frau. „Schickt eure Garde weg. Wir bitten euch darum.“
„Es ist auch eure Garde“, verbesserte sie Finnikin. „Die Soldaten sind dazu da, um euch und eure Kinder zu beschützen.“
„Unsere Kinder sind in Sicherheit“, antwortete sie.
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