Winterlicht
erneut aufschrie, diesmal vor Angst. Trotzdem zog sie Evanjalin blitzschnell schützend hinter sich.
Lady Abian kam als Letzte herein. Sie nahm ihre Tochter in die Arme. Als sie Evanjalin bemerkte, wurde sie ganz still. „Augustin“, sagte sie ruhig, „geh und wecke die Kinder und auch die anderen auf, wenn sie nicht ohnehin schon wach sind. Sie sollen sich alle im Empfangszimmer versammeln.“
Sie nahm Evanjalins schmutziges Gesicht in ihre Hände und betrachtete es hingerissen. „Celie, sag Sebastina, sie soll ein Bad einlassen.“
„Abie“, mischte sich Trevanion ein, „eure belegonische Dienerschaft darf nicht erfahren, dass wir hier sind.“
„Sebastina ist eine von uns. Alle in unserem Haushalt kommen aus Lumatere.“
Finnikin ließ Evanjalin nicht aus den Augen. Er dachte daran, wie seltsam sich Lady Celie bei ihrem letzten Besuch in diesem Haus benommen hatte. Evanjalin jedoch achtete nicht auf ihn, sie betrachtete Mutter und Tochter. Außer in den Flüchtlingslagern hatte er sie nie mit anderen Frauen zusammen gesehen, und er war sich sicher, dass es ihr in diesem Moment völlig egal gewesen wäre, wenn er und alle anderen Männer sich in Luft aufgelöst hätten.
Lord Augustin starrte auf zwei weitere Personen, die sich bis jetzt im Halbdunkel verborgen hatten. „Verehrungswürdiger Barakah?“, fragte er. Er ging zu dem Priester und sank auf ein Knie.
Lady Abian war entsetzt. Tadelnd sagte sie: „Wie konntet ihr zulassen, dass der Priesterkönig auf den Spalieren herumklettert?“ Sie küsste den heiligen Mann. „Gebt mir Euren Segen später“, sagte sie sanft. „Ihr seht erschöpft aus, ich möchte, dass Ihr Euch ausruht. Und jetzt darf ich alle in das Empfangszimmer bitten. Ich werde mich um die Mädchen kümmern.“
Lord Augustin ging von Zimmer zu Zimmer und hämmerte an die Türen. Unten im Salon bot er seinen Gästen einen Platz an. Wenig später drängten sich in dem Raum Lord Augustins Schwester mit Familie sowie etwa fünfzig weitere Leute. Finnikin konnte sich kaum von seiner Überraschung erholen. Plötzlich verstand er, warum Lady Celies Schlafzimmer so winzig war. Es war tatsächlich ein Schrank. Jedes Zimmer in diesem Haus, sogar die Lagerräume, Keller und Speisekammer, dienten als Wohnquartier.
„Wer sind diese Leute?“, fragte Finnikin.
„Du siehst das gesamte Dorf Sayles vor dir“, sagte Lord Augustin. „Ein Herzog sollte all seinen Schützlingen Zuflucht gewähren.“
Finnikin sah ihn verlegen an. Er schämte sich dafür, dass er so oft schlecht über den lumaterischen Exiladel und seine Verschwendungssucht gesprochen hatte, vor allen Dingen über Lord Augustin.
In den Gesichtern der Versammelten spiegelten sich Angst und Erwartung wider. Aber als die Leute von Sayles die Neuankömmlinge erkannten, machte sich eine frohe Stimmung breit. Die Frauen weinten vor Rührung und selbst die Männer wischten sich ein paar Tränen aus den Augen und schüttelten einander bewegt die Hände.
Lady Abian führte die Mädchen herein. Evanjalin war blank geschrubbt und trug jetzt ein ebenso feines weißes Kleid wie Lady Celie. Sie roch nach Sandelholz und ihre Haut war glatt und weich wie Honig.
Weil so wenig Platz war, setzte sich Lady Abian kurzerhand auf den Schoß ihres Gatten.
„Abian!“, schimpfte ihre Schwägerin, „was ist denn das für ein Benehmen!“
„Ich bin die Tochter eines Fischhändlers“, sagte Lady Abian. „Was erwartest du von mir?“
In dieser Nacht war die Freude groß. Finnikin genoss es, nur dazusitzen und zuzuschauen. Hier waren Männer und Frauen, die alle einen schmerzlichen Verlust erlitten hatten. Als sie jung und tatkräftig waren, hatte man ihnen die Heimat genommen.
Froi saß in der Ecke bei den kleinen Jungen, die einen Wettbewerb im Knöchelschlagen veranstalteten. Wer es schaffte, dass beim Gegner Blut floss, war der Gewinner. Froi piesackte die Jüngeren, und auch wenn sie es nicht zugeben wollten, zuckten einige schmerzgepeinigt zusammen. Finnikin ging zu ihnen und verpasste Froi einen Fausthieb aufs Ohr, nur so als Warnung.
Die ganze Nacht hindurch redeten sie leidenschaftlich über Lumatere, die Meinungen gingen auseinander, manche Stimmen waren gedämpft, manche wütend erhoben, wieder andere rau von Gefühl.
„Hätte man es verhindern können? War der König zu leichtfertig? Hätte er sich völlig von Charyn abschotten müssen?“
„Niemand konnte das vorhersehen, Matin“, sagte Trevanion mit Nachdruck. „Niemand
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