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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Helprin
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Mit ausgestreckten Armen imitierte er die Haltung der Vorderläufe eines Pferdes in vollem Galopp, wie es auf einem Foto abgebildet war. Aber es gelang ihm nicht im Entferntesten, die Anmut des perfekt ausbalancierten Bewegungsablaufs nachzuahmen. Peter besaß das Bild eines Feuerwehrgauls, der, obwohl er vor ein Löschfahrzeug gespannt war, ein solches Tempo vorgelegt hatte, dass im Moment der Aufnahme keiner seiner Hufe den Boden berührte. Den Kopf hielt er in die Höhe gereckt, als wehrte er sich dagegen, in einer scharfen Kurve von der Fliehkraft des schleudernden Fuhrwerks aus der Bahn gerissen zu werden. Von diesem Foto war Peter geradezu besessen. Er drehte es seitwärts und stellte es auf den Kopf, ja er untersuchte es sogar mit einem Vergrößerungsglas, das er von der Arbeit mitgebracht hatte. Es hatte eine besondere Bewandtnis mit der Art, wie dieses Pferd dicht über dem Boden in der Luft schwebte. Peter brauchte nur die Augen zu schließen, und schon flog auch er. Festen Boden unter den Füßen zu haben oder einige Fuß hoch darüber zu schweben – das war ein Unterschied, der nicht zu gering eingeschätzt werden durfte. Wenn es einem Menschen nur gelang, mühelos, entspannt und mit schlaffen Gliedmaßen ein paar Zollbreit über dem Erdboden zu schweben, dann kam dies einer Reise in so weite Fernen gleich, wie sie sich noch nie jemand vorzustellen vermocht hatte. Peter Lake fragte sich, ob Engel überhaupt noch wussten, was es bedeutete, auf festem Grund zu stehen, nachdem sie lange Zeit in jenem reinen Schwebezustand verharrt hatten. Vielleicht kann man auf diese Weise die Künstler erkennen, die im Dienst eines Höheren arbeiten, sagte er sich. Mag sein, dass es nicht nur auf die Tiefe in den Augen der Engel, sondern auch auf die Gelöstheit der Gliedmaßen ankommt. Er hatte ja selbst einmal dieses Schweben erlebt, bei Petipas , als das kleine Kind über das Steinpflaster des Innenhofes auf ihn zugeeilt war, viel schwereloser und fließender, als es die Gesetze der Physik eigentlich erlaubt hätten.
    Aber das hätte genauso gut eines jener Dinge sein können, die ihm seine Fantasie vorspiegelte, eines der vielen Dinge, die so schwer auf ihm lasteten wie sein schreckliches Wissen um die Toten. Nie wäre er in der Lage gewesen, solche Sinnestäuschungen zu erklären, kannte er sich doch nicht einmal selbst. Auch von den Pferden ging dasselbe unergründliche Mysterium aus, das ihn zu so manchen Dingen hinzog, aber zugleich hatten sie die Wirklichkeit von Wesen aus Fleisch und Blut. Mochte ihn etwas an sie fesseln, das aus einer anderen Welt stammte, so ging er doch bereitwillig darauf ein, denn immerhin zogen sie Müllfuhrwerke oder beförderten Touristen auf Rundfahrten durch den Park. Im Übrigen war es natürlich leicht, Pferde zu lieben, weil sie so außerordentlich schön und sanft sind.
    So betrachtete Peter Lake denn unverwandt die Bilder von weißen Pferden, ohne zu ahnen, warum. Seine Liebe zu einem dieser Pferde, von dem er nicht wusste, ob er es überhaupt jemals gesehen hatte, erweckte in ihm Gefühle, für die er keine Erklärung hatte. Bald schon gab es in der ganzen Stadt keinen Stall, den er nicht in- und auswendig kannte. Wenn Pferde versteigert oder öffentlich ausgestellt wurden, war Peter Lake zur Stelle. Oft saß er auf einem großen Stein neben dem am häufigsten benutzten Reitweg im Central Park. Wäre er noch mit verwirrtem Geist durch die Stadt geirrt, dann hätte er von alledem nichts verstanden. Doch nun war Friede in ihm eingekehrt, und allmählich kam er auf die richtige Spur. Dabei halfen ihm eher gewisse Grundzüge des eigenen Verhaltens als die klare Erkenntnis seiner Wünsche. Nach einiger Zeit hatte er begriffen, dass er nach einem besonderen Pferd suchte, aber er machte sich keine Hoffnung, es jemals zu finden, denn er wusste weder, warum er suchte noch was er suchte. Außerdem waren große weiße Pferde keine Seltenheit.
    Doch je mehr er in sich herumstöberte, desto schärfer wurden seine Sinne. In dem Maß, wie seine Wunden verheilten und er neue Kraft schöpfte, erholten sich auch seine natürlichen Fähigkeiten. Wäre es nicht so gewesen, dann hätte er Christiana niemals bemerkt.
    Dabei war sie alles andere als unauffällig. Sie gehörte zu jener Art von Frauen, bei denen man … nun, wir wissen ja, wie sie aussah. Seltsamerweise fühlte sich Peter in ihrer Gegenwart, ganz im Gegensatz zu anderen Männern, sehr wohl, und das lag vielleicht daran, dass sie keine

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