Wintermond
In diesem Augenblick wußte sie, daß ihre Zukunft Jacks, Tobys und ihre eigene - in irgendeinem fernen Ort lag. Diese Stadt war nicht mehr ihre Heimat. Sobald Jack sich erholt hatte, würden sie das Haus verkaufen und...irgendwohin ziehen, ganz egal wohin, zu einem neuen Leben, einem neuen Anfang. Diese Entscheidung erfüllte sie mit Trauer, gleichzeitig aber auch mit Hoffnung. Als sie sich vom Fenster abwandte, stellte sie fest, daß Jack die Augen geöffnet hatte und sie beobachtete. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Procnows düstere Worte fielen ihr ein. Massiver Blutverlust. Tiefer Schock. Auswirkungen auf das Gehirn. Gehirnschaden. Sie hatte Angst, etwas zu sagen, weil sie befürchtete, seine Erwiderung würde undeutlich, gequält und bedeutungslos sein. Er leckte über seine grauen, rissigen Lippen. Sein Atem ging keuchend. Sie stützte sich auf dem Bett ab, beugte sich über ihn und faßte allen Mut zusammen. »Schatz?« sagte sie. Verwirrung und Angst legte sich auf seine Züge, als er den Kopf leicht nach rechts, dann nach links drehte und den Raum betrachtete.
»Jack? Verstehst du mich, Baby?«
Er konzentrierte sich auf den Überwachungsmonitor und schien von der sich bewegenden grünen Linie in den Bann geschlagen zu werden, die nun viel öfter und viel höher ausschlug als zu irgendeiner Zeit, seit Heather die Intensivstation betreten hatte. Ihr Herz hämmerte so heftig, daß sie am ganzen Leib zitterte. Daß er nicht antwortete, entsetzte sie.
»Jack, bist du in Ordnung, kannst du mich hören?«
Langsam drehte er das Gesicht wieder zu ihr um. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schnitt eine Grimasse. Seine Stimme war schwach, nur ein Flüstern. »Es tut mir leid.«
»Es tut dir leid?« wiederholte sie verblüfft.
»Hab' dich gewarnt. An dem Abend, als ich dir den Antrag machte. Ich hab' schon immer...alles verpatzt.«
Das Lachen, das über ihre Lippen kam, war einem Schluchzen gefährlich nahe. Sie drückte sich so heftig gegen das Bettgeländer, daß es schmerzhaft gegen ihr Zwerchfell preßte, doch es gelang ihr, seine Wange zu küssen, seine bleiche und fiebrige Wange, und dann den Winkel seiner grauen Lippen. »Daran hab' ich mich doch schon längst gewöhnt«, sagte sie.
»Durstig«, sagte er.
»Klar, sicher, ich hole eine Schwester, mal sehen, was du trinken darfst.«
Maria Alicante kam durch die Tür geeilt; die Veränderung von Jacks Telemetriewerten auf der zentralen Überwachungskonsole hatte sie alarmiert.
»Er ist wach, bei Bewußtsein, er sagt, daß er Durst hat«, erklärte Heather ihr, und ihre Worte klangen wie ein leises Jubeln.
»Nach einem harten Tag darf man doch ruhig etwas durstig sein, oder?« sagte Maria zu Jack und ging um das Bett herum zum Nachttisch, auf dem eine abgedeckte Karaffe mit Eiswasser stand.
»Bier«, sagte Jack.
Maria klopfte behutsam auf den Beutel der intravenösen Injektion. »Was glauben Sie denn, was wir schon den ganzen Tag in Ihre Adern tropfen lassen?«
»Aber kein Heineken.«
»Ach, Sie trinken gern Heineken, was? Tja, wir müssen die Kosten der Krankenfürsorge im Griff halten. Dieses importierte Zeug können wir uns nicht leisten.« Sie goß ein Glas zu einem Drittel mit Wasser aus der Karaffe voll. »Wir verabreichen Budweiser, und wenn Ihnen das nicht paßt, kriegen Sie gar nichts.«
»Besser als nichts.«
Maria öffnete eine Schublade und nahm einen biegsamen Plastikstrohhalm heraus. »Dr. Procnow ist wieder zurück«, sagte sie zu Heather, »er macht gerade die Abendvisite, und Dr. Delaney ist auch gerade eingetroffen. Ich habe sie gerufen, als ich die Veränderung bei Jacks EEG sah.«
Walter Delaney war ihr Hausarzt. Obwohl Procnow nett und offensichtlich kompetent war, wurde Heather bei dem Gedanken, daß unter den Ärzten, die sich um Jack kümmerten, jetzt auch ein vertrautes Gesicht war, einfach wohler zumute.
»Jack«, sagte Maria, »ich kann das Bett nicht hochstellen, weil Sie flach liegen müssen. Und ich möchte nicht, daß Sie versuchen, den Kopf zu heben, klar? Ich halte Ihnen den Kopf hoch.«
Maria legte eine Hand unter seinen Nacken und hob seinen Kopf ein paar Zentimeter von dem flachen Kissen hoch. Mit der anderen Hand hielt sie ihm das Glas hin. Heather griff über das Geländer und schob den Strohhalm zu Jacks Lippen.
»Kleine Schlucke«, warnte Maria ihn. »Sie wollen doch nicht ersticken.«
Nach sechs oder sieben Schlucken - zwischen jedem einzelnen legte er eine Atempause ein – hatte er
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