Wintermond
Bildschirm des Überwachungsgeräts schlängelten sich jetzt Linien aus hellgrünem Licht, deren zackige Ausschläge die Aktivität der Herzvorhöfe und -kammern anzeigten. Sie setzten sich ohne Störung fort, schwach, aber regelmäßig. Falls Jack sie gehört hatte, reagierte sein Herz nicht auf ihre Worte. In einer Ecke stand ein Stuhl mit gerader Lehne. Sie zog ihn neben das Bett und beobachtete Jack durch die Lücken zwischen dem Bettgeländer. Besuche in der Intensivstation waren auf zehn Minuten alle zwei Stunden beschränkt, damit die Patienten nicht erschöpft und die Schwestern nicht in der Ausübung ihrer Pflichten gestört wurden. Doch die Oberschwester der Station, Maria Alicante, war die Tochter eines Polizisten. Sie erteilte Heather eine Ausnahmegenehmigung. »Sie können bei ihm bleiben, so lange Sie wollen«, sagte Maria. »Gott sei Dank ist meinem Dad noch nie so etwas passiert. Wir haben immer damit gerechnet, daß es eines Tages geschehen würde, aber er hat einfach Glück gehabt. Natürlich ist er vor ein paar Jahren pensioniert worden, etwa zu der Zeit, als da draußen alles noch viel verrückter wurde.«
Etwa jede Stunde verließ Heather die Intensivstation, um im Warteraum ein paar Minuten mit den Mitgliedern der Wachmannschaft zu verbringen. Es waren zwar immer andere Gesichter, aber niemals weniger als drei, manchmal sogar sechs oder sieben, männliche und weibliche Officer in Uniform und Detectives in Zivil. Auch die Frauen anderer Cops schauten vorbei. Jede einzelne umarmte sie. Ständig drohte sie in Tränen auszubrechen. Sie empfanden natürlich Mitgefühl und teilten ihr Leid. Aber Heather wußte, daß jede einzelne froh darüber war, daß Jack und nicht ihr Mann zu Arkadians Tankstelle geschickt worden war.
Heather machte ihnen deshalb keine Vorwürfe. Sie hätte ihre Seele für die Möglichkeit hergegeben, daß ein Kollege von Jack und nicht er selbst diesen Einsatz übernommen hätte - und hätte den Unglücklichen dann mit dem gleichen aufrichtigen Leid und Mitgefühl im Krankenhaus besucht. Jack McGarveys Abteilung war eine eng verknüpfte Gemeinschaft, besonders in diesem Zeitalter der sozialen Auflösung, doch jede Gemeinschaft bestand aus kleineren Einheiten, aus Familien, die gemeinsame Erfahrungen, Bedürfnisse, Werte und Hoffnungen hatten. Ganz gleich, wie engmaschig das Netz der Gemeinschaft verknüpft war, eine jede Familie schützte und behütete zuerst ihre jeweiligen Mitglieder. Ohne die intensive und alles andere ausschließende Liebe einer Ehefrau für ihren Mann, eines Mannes für seine Frau, der Eltern für ihre Kinder, gäbe es kein Mitleid für Menschen in der größeren Gemeinschaft außerhalb der eigenen vier Wände. Als sie bei Jack in der Intensivstation wachte, sah Heather ihr gemeinsames Leben vor ihrem geistigen Auge Revue passieren, von ihrer ersten Verabredung über die Nacht, in der Toby geboren worden war, bis hin zum Frühstück an diesem Morgen. Über zwölf Jahre. Aber die Zeitspanne kam ihr so kurz vor. Manchmal legte sie den Kopf auf das Bettgeländer und sprach mit ihm, rief einen ganz besonderen Augenblick in Erinnerung zurück oder erinnerte ihn daran, wie oft sie gemeinsam gelacht, wieviel Freude sie miteinander geteilt hatten. Kurz vor fünf Uhr wurde sie von der plötzlichen Erkenntnis, daß sich etwas verändert hatte, aus ihren Erinnerungen gerissen. Beunruhigt stand sie auf und beugte sich über das Bett, um sich zu überzeugen, daß Jack noch atmete. Dann wurde ihr klar, daß nichts geschehen war, denn der Herzmonitor zeigte keine Veränderung der Werte auf. Verändert hatte sich das Geräusch des Regens. Es war nicht mehr da. Der Sturm hatte sich gelegt. Sie sah zu dem undurchsichtigen Fenster. Die Stadt darunter, die sie nicht sehen konnte, würde aufgrund des Wolkenbruches, der fast den ganzen Tag über angehalten hatte, hell schimmern.
Los Angeles nach Regengüssen hatte ihr schon immer gefallen funkelnde Wassertropfen flossen die Spitzen der Palmwedel hinab, als würden Juwelen von Bäumen fallen, die Straßen waren sauber, und die Luft war so klar, daß die fernen Berge wieder aus dem üblichen Smog auftauchten. Nach einem Regen kam ihr alles so frisch vor. Aber ob sie sich auch diesmal, wenn das Fenster durchsichtig gewesen wäre, über den Anblick der Stadt so hätte freuen können? Sie bezweifelte es. Los Angeles würde für sie nie wieder funkeln, selbst wenn der Regen die Häuser vierzig Tage und Nächte lang schrubben würde.
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