Wintermond (German Edition)
sowohl psychischen als auch körperlichen Erschöpfung extrem heraus. Während er nun damit begann die Erde wegzuschaufeln, versuchte er dabei an nichts zu denken. Er führte die Arbeit einfach aus, völlig neben sich stehend. Trotz der Kälte bildete sich Schweiß auf seiner Stirn. Derart körperliche Anstrengung war er einfach nicht mehr gewohnt. Der neben der Grube entstehende Erdhaufen sah derweilen riesig aus. Alex konnte kaum glauben, dass all die Erde überhaupt aus dem frei geschaufelten Loch stammte. Er arbeitete sich mit dem Spaten so weit vor, wie es notwendig war, bevor er sich schließlich erschöpft mit der freien Hand über die Stirn fuhr. Dann schmiss er den Spaten neben sich in den Schnee und hob Sam ein weiteres Mal vorsichtig an, um ihn daraufhin behutsam in das selbst erschaffene Hundegrab zu legen. Alex wagte es nicht, den Pullover von Sam herunterzunehmen. Er war sich sicher, dass er den Anblick nicht ertragen könnte.
„Es tut mir leid, Sam ...“, murmelte er leise. „Es tut mir so schrecklich leid.“
Er spürte, wie seine Augen glasig wurden, doch hielt er die Tränen weiterhin zurück. Gebückt blieb er neben Sam stehen und betrachtete das ganze Bild noch einen letzten Augenblick, bevor er seine Arme nach dem Erdhaufen ausstreckte und den Großteil der Masse zurück in das Loch schob. Zwischendurch klopfte er die Erde vorsichtig fest und füllte den dadurch entstandenen Platz mit neuer Erde auf. Seine Hände waren so kalt, dass er sie nicht einmal mehr spürte. Es war lediglich ein starkes Brennen, das bei jeder kleinsten Bewegung in seinen Fingern schmerzte. Es dauerte nicht lange, bis er Sam schließlich endgültig begraben hatte. Aufgrund der nun überschüssigen Erde war an der besagten Stelle ein kleiner Hügel entstanden, mit dessen Hilfe Alex das Grab zukünftig leicht wieder finden konnte. Er blieb noch eine Weile in der Hocke, dachte fest an Sam und richtete sich dann wieder zu seiner vollen Größe auf. Seine Hände waren ganz schwarz von der dunklen Erde. Doch der Dreck störte ihn kaum. Er blieb direkt vor Sams Ruhestätte stehen und spürte, wie er ungewollt melancholisch wurde und über sein Leben nachzudenken begann. Darüber, dass Sam bereits der dritte Verlust in genau diesem war. Es war, als ob sein Leben von einem Fluch belegt war und er immer genau das verlor, was ihm am meisten bedeutete. Genau diese Tatsache hatte ihn zu dem gemacht, was er war: ein Einzelgänger, der niemanden mehr an sich heranließ. Er hatte eine so große Mauer um sich herum aufgebaut, hinter der sich mittlerweile ein Charakter entwickelt hatte, der keineswegs mehr an sein früheres Ich erinnerte. Alex fühlte sich leer und erkannte in jenem Augenblick, dass er längst selbst vergessen hatte, wer er eigentlich war. Er hatte sich so sehr von seinem individuellen Denken und Empfinden entfernt, dass er sich kaum mehr daran erinnern konnte, wie er noch vor all diesen Vorfällen gewesen war. Die Leere in ihm wuchs von Minute zu Minute und brachte dabei eine enorme Gleichgültigkeit mit sich. Der einzige Gedanke, den er noch fassen konnte, war der, dass er überhaupt nicht wusste, wozu er noch lebte.
Alex blickte ein letztes Mal auf Sams Grab, bevor er sich umwandte und zum Hauseingang der Villa zurückkehrte. Auch ohne die Hilfe eines Spiegels wusste er, wie nichtssagend seine Augen aussehen mussten, wie ausdruckslos sein ganzes Gesicht. Er spürte überhaupt nichts mehr in sich und genau das machte ihn wahnsinnig. Doch selbst diese Verzweiflung genügte nicht, um Emotionen in ihm zu wecken. Es war fast, als ob er eine Hülle seiner selbst war, die in jenem Moment nur noch wie eine Maschine funktionierte.
An der Haustür angekommen suchte er mit seinen schmutzigen Händen nach dem Schlüssel in seiner Jackentasche. Seine tauben Finger hatten Mühe, den Schlüsselbund zu fassen, doch letztendlich gelang es ihm, diesen hervorzuziehen. Als er dann einen weiteren Schritt nach vorne trat, um aufschließen zu können, hörte er plötzlich, wie hinter ihm jemand seinen Namen rief. Er brauchte einige Sekunden, um die Stimme zuordnen zu können, bis er erkannte, dass sie von Ben stammte. Mit leerer Miene wandte er sich um und sah, wie Ben gerade vom Joggen zurückkehrte. Doch dessen Mimik versprach nicht wie sonst üblich eine stolze Erschöpfung, wie der Dunkelhaarige sie eigentlich immer nach dem Laufen hatte, sondern viel mehr ein Ausdruck von Mitleid und Verständnis. Bens laufende Schritte
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