Wintermond (German Edition)
verlangsamten sich allmählich. Die letzten paar Meter in Alex’ Richtung brachte er gehend hinter sich.
„Alex ...“, wiederholte er sich ein weiteres Mal.
Doch der Angesprochene reagierte nicht und konnte Bens festem Blick nicht einmal standhalten. Stattdessen wandte er sich ab und starrte ziellos vor sich auf den Boden.
„Du hast Sam begraben, richtig?“, fragte Ben vorsichtig und blieb etwa einen halben Meter vor Alex stehen.
Alex wusste, dass er nichts erwidern brauchte, denn die Antwort lag nahe. Seine Hände und seine Kleidung waren dreckig und Sams Leiche lag nicht mehr vor der Haustür. Da bedurfte es keines besonders klugen Menschenverstandes, um diese Fakten logisch zu kombinieren.
Alex erinnerte sich zurück an die letzte Nacht und daran, wie Ben eine Notlüge erfunden hatte, um die Kerle, mit denen Alex sich angelegt hatte, zu verscheuchen. Eigentlich müsste er sich dafür bei Ben bedanken, allein deswegen, weil der Dunkelhaarige sich damit selbst in Gefahr gebracht hatte. Doch während seine Gedanken verschiedene Ansätze eines Dankes formulierten, brachten seine Lippen nicht ein einziges Wort hervor.
„Das mit Sam tut mir wirklich leid“, sagte Ben leise. Er schien es ehrlich zu meinen.
Alex wunderte sich, dass Ben nicht mehr sagte und ihn nicht einmal auf das weitere Geschehen der letzten Nacht ansprach. Dieser kurze Gedanke, der Alex für einen Moment lang gefüllt hatte, verblasste jedoch kurze Zeit später wieder und wurde erneut durch die sinnlose Leere ersetzt.
„Wenn ich dir irgendwie helfen kann ...“, begann Ben, doch unterbrach Alex ihn augenblicklich.
„Lass mich einfach in Ruhe!“, bat er und klang dabei weder hasserfüllt noch wütend. Er hatte die Worte so leise ausgesprochen, dass sie fast jämmerlich auf Ben wirken mussten.
Für wenige Minuten herrschte Stille. Ben stellte sich neben Alex vor die Haustür und steckte seinen Schlüssel ins Schloss. Es schien fast, als ob er Alex’ hilflosen Zustand bemerkt hatte und ihm mit dieser Geste helfen wollte. In seinen Augenwinkeln konnte Alex sehen, wie Ben ihm die Tür aufhielt. Er fühlte sich lächerlich in seiner Position, nahm diese fürsorgliche Geste dennoch an und trat an Ben vorbei in den Flur. Dort befreite er sich im Stehen aus seinen Schuhen. Nur beiläufig nahm er wahr, wie Ben die Haustür zudrückte und sich daraufhin ebenfalls die Schuhe auszog. Alex spürte, dass Ben ihn von der Seite betrachtete und wandte sich schließlich ein weiteres Mal um.
„Danke“, sagte er dann, ohne vorher großartig darüber nachgedacht zu haben.
„ Danke? “, wiederholte Ben ihn ungläubig und blickte ihn dabei skeptisch und mit zusammengezogenen Augenbrauen an.
Doch Alex erwiderte nichts weiter. Ein Wort mit solch einer Bedeutung kam selten aus seinem Mund, weshalb er es nicht für nötig hielt, seine Aussage tiefergehend zu erläutern. Er wusste selbst nicht, wofür genau er sich bedankt hatte. Ob es dafür war, dass Ben ihm in der letzten Nacht geholfen hatte oder dafür, dass Ben - warum auch immer - ständig für ihn da war und ihm immer wieder seine Hilfe anbot.
Da Ben nichts weiter erwiderte, vermutete Alex, dass dieser vorerst ausreichend mit der Interpretation dieses simplen Wortes beschäftigt war. Er selbst befreite sich noch aus seiner Jacke, hängte sie an die Garderobe und machte sich schließlich auf den Weg in die Küche. Er brauchte dringend etwas gegen seine Kopfschmerzen und einen Schluck Wasser, um das trockene Gefühl aus seiner Kehle zu spülen. Während er den hellen Flur durchschritt, spürte er Bens Blick noch eine Weile an seinem Rücken, bevor er diesen die Treppe hinaufgehen hörte.
Alex seufzte tief auf. Vor der angelehnten Küchentür blieb er kurz stehen, bevor er sie aufschob und den Raum betrat. Dann ging er zum Schrank, holte sich ein Glas und hielt es daraufhin unter den Wasserhahn. Während er dies tat, entdeckte er Sams Fressnapf neben der Heizung. Ein zerreißendes Gefühl durchzog seine Magengegend. Ihm wurde schlecht, als er daran dachte, dass er den Napf künftig nicht mehr auffüllen musste. Ungewollt erinnerte er sich daran, wie Sam nach jedem Spaziergang freudig und schwanzwedelnd vor dem Küchentresen auf seine Leckerlies gewartet hatte. Alex war so in Gedanken, dass er erst wieder aus seinem tranceartigen Zustand erwachte, als er plötzlich kühle Nässe an seiner Hand spürte und sich daraufhin erschrocken umwandte. Sein Glas war längst übergelaufen und das
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