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Wintermond

Wintermond

Titel: Wintermond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Heitmann
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sein Innerstes, stieß jedoch nur auf eine Leere, als läge das gerade Erlebte bereits Jahrtausende zurück und hätte eine Einöde hinterlassen. Aus weiter Entfernung nahm er wahr, wie die Rudelmitglieder sich ihm vorsichtig näherten, hörte ihren Herzschlag, spürte ihre Atemlosigkeit. Eine stille Andacht.
    Erneut blickte David auf den blutverschmierten Leichnam zu seinen Füßen, als dieser plötzlich von einem Schatten umhüllt wurde. Immer neue dunkle Schlieren woben ein Netz, breiteten sich wie ein graues Leichentuch aus, bis die Umrisse von Mathol nur noch zu erahnen waren. Während David das Geschehen voller Unglauben beobachtete, zog sich der Schatten zu einem heulenden Wolfskopf zusammen, der ein ohrenbetäubendes Klagelied ausstieß.
    Gepeinigt schloss David die Augen, und hinter seinen Lidern setzte eine Explosion ein, der er sich unmöglich entziehen konnte. Er wurde mitgerissen, ohne zu begreifen, wie ihm geschah. Obwohl die Explosion gleißend hell erschien, so wusste David doch, dass es kein Licht gab, sondern nur eine grenzenlose Schwärze, die sich endlos verdichtete. Ein Teil von ihm wurde in diese Finsternis gerissen und neu geboren - das erkannte er, ohne es zu verstehen. Er hörte in weiter Ferne das Heulen seines Wolfes, aber er konnte es nicht deuten. Dieses Universum gehörte dem Dämon. Dies war sein Schattenreich, dem er zu entfliehen versuchte, indem er sich in der Brust der Menschen neben ihrer einzigartigen Seele einnistete und mit ihrer Hilfe auf die Welt blickte.
    Als David die Augen wieder aufschlug, hatte er keinen Begriff davon, wie lange er im Schattenreich gewesen war. Dafür war das Bild, das seine Umgebung abgab, um ein Vielfaches detaillierter geworden: Rudelmitglieder, deren Dämon sich ihm vorher entzogen hatten, erstrahlten nun in einem eigenen Spektrum. Ihre Empfindungen offenbarten sich ebenso wie ihre Bedürfnisse. Bewegungen warfen vibrierende Bahnen, lichtlose Ecken zeigten mit einem Mal Konturen, und der Raum nahm eine seltsame Dimension an. Er erkannte Leugs verängstigten Wolf, bevor er den Mann sah, der mit beiden Händen eine blutende Halswunde umfasst hielt. David wurde übel vor lauter Verwirrung. Er schwankte, doch der Wolf in seinem Inneren richtete sich auf und verhalf ihm zu neuer Kraft.
    Als David das Gleichgewicht wiedergefunden hatte, nahm er einen dunklen Schatten neben sich wahr, von dem ein widerwärtiger Geruch ausging: versengtes Haar, vor Hitze geronnenes Blut. Obwohl sich ihm Hagens Dämon nicht offenbarte, sah David den Anführer in einem neuen Licht. Sein Wolf, dachte David benommen, es ist nicht Hagens Wolf, mit dem etwas nicht stimmt. Tief in seinem Innern hörte er das Echo eines zustimmenden Grollens. Instinktiv wollte er zurückweichen, als Hagen dicht vor ihn trat, doch sein Körper steckte immer noch im Schrecken der Veränderung fest, unfähig, sich einer weiteren Herausforderung zu stellen.
    »Nun«, sagte Hagen, während er Davids Kinn umfasste und eindringlich dessen Gesicht betrachtete. »Das hatte ich mir zwar anders vorgestellt, aber dieser Weg ist unleugbar auch eine Möglichkeit, in der Hierarchie des Rudels aufzusteigen. Sehr weit nach oben. Hätte nicht gedacht, dass du dich so sehr nach Mathols Platz sehnst und ihm deshalb kurzerhand die Kehle zerfetzt. Sich von seinem Wolf zu trennen, ein schöner Trick. Es muss dich viel Kraft gekostet haben, diese Fähigkeit vor mir und dem Rudel zu verbergen.Warum hast du eigentlich nie gezeigt, welchen Rang du aufgrund deiner Stärke wirklich beanspruchen könntest? Wenn ich das gewusst hätte, wäre das ganze Drama hier unnötig gewesen, denn du weißt ja schon, wie man den Wolf in diese Welt lockt und ihm eine Form gibt.«
    Einen Augenblick hielt Hagen inne, als dächte er darüber nach, noch etwas zu sagen. Dann wandte er sich ab und fixierte die junge Frau, die vor Entsetzen zusammengekauert auf dem Boden lag, eingekeilt vom Rudel, das ihre Anwesenheit bis zu diesem Moment vergessen hatte.Als die Mitglieder sich nun Hagens geifernden Blickes bewusst wurden, sprengten sie hastig auseinander. Niemand stellte sich dem Anführer in den Weg, wenn er sich auf ein Opfer stürzte.
    Ohne nachzudenken, spannte David die schmerzenden Muskeln in seinem Körper an, um Hagen davon abzuhalten. Doch ehe er etwas unternehmen konnte, traf ihn der Wille seines Anführers wie ein Schlag gegen die Brust, der seine Lungenflügel in Brand setzte. Während David einen Schmerzensschrei unterdrückte, blickte

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