Wintermord
Böses wollte. Alles, was Sie mir sagen, kann von Bedeutung sein.«
Sie verstummte und wartete auf eine Reaktion. Vergeblich.
»Susanne?«
Die junge Frau sah tatsächlich aus, als würde sie frieren: Sie hatte die Schultern bis zu den Ohren hochgezogen und biss die Zähne fest zusammen, die Haut rund um ihren Mund war gelblich-rot gefleckt. Ihre Hände hatte sie zu Fäusten geballt.
Karin Beckman hielt sich zurück. Sie musste respektieren, dass diese Frau nicht berührt werden wollte. »Wichtig ist auch, ob Sie im Zusammenhang mit Ihrem Bruder einmal den Namen Lars Waltz gehört haben. Wir verfolgen da eine Spur, die sich aber durchaus als irrig erweisen kann.«
Eine knappe Dreiviertelstunde saß sie der schweigenden Susanne Jensen gegenüber, bevor sie schließlich aufstand und ihre Beine streckte. »So, ich gehe jetzt.«
Vorsichtig legte sie Susanne Jensen ihre Visitenkarte hin. Die Frau sah aus, als würde sie mit offenen Augen schlafen. Wenn man blinzelte, hätte man sie in ihrer Embryonalstellung auch für eine Zehnjährige halten können.
Doch Karin Beckman blinzelte nicht. Sie sah Susanne Jensen überdeutlich. »Bitte melden Sie sich bei mir«, bat sie ein letztes Mal. »Auch wenn Sie eigentlich keine Lust haben, über Ihren Bruder zu sprechen.«
Als Karin Beckman durch den Korridor zurückging, war er leer, und die zehn Spalten im Gästebuch waren voll.
43
Ann-Christine Östergren stand am Fenster und schaute hinaus. Von weitem wirkte sie fast ein wenig unsicher. Sie drehte eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger und sah erschöpfter aus als je zuvor.
Bis zu ihrer Pensionierung waren es nur noch ein paar Jahre, aber das konnte kaum ein Mitarbeiter ernst nehmen. Die Vorstellung von Ann-Christine Östergren als Rentnerin, die im Schrebergartenhäuschen Kissenbezüge bestickte, war einfach absurd.
»Du wolltest mit mir sprechen«, sagte er.
»Christian, schön, dass du da bist.«
Sie bedeutete ihm mit einer Handbewegung, Platz zu nehmen. »Du siehst ja aus wie ein Schuljunge, der zum Rektor bestellt worden ist.«
Tell verzog den Mund. Gegenüber seiner Chefin hatte er das Gefühl, sein letztes Restchen soziale Kompetenz eingebüßt zu haben. Er setzte sich auf einen Stuhl und schlug die Beine übereinander. Zum Schein hatte er Material von den Jeep-Morden mitgebracht.
Als Ann-Christine Östergren nichts sagte, begann er unbeholfen, sie auf den neuesten Stand ihrer wichtigsten Ermittlungen zu bringen, doch sie winkte nur ab.
Sie nahm eine Schachtel Zigaretten aus der Schreibtischschublade und hielt sie mit einem Gesichtsausdruck zwischen Frage und Trotz hoch.
»Selbstverständlich«, sagte Tell.
Im Polizeigebäude war Rauchen streng verboten. Die alten Raucherzimmer hatten sogenannten »Entspannungs-Zimmern« Platz machen müssen, woraufhin sich die unbelehrbaren Nikotinkonsumenten in die Zimmer mit Balkon flüchteten.
Sie öffnete die Balkontür einen Spalt und zog ihren Stuhl näher heran. »Ich weiß, ich sollte nicht, aber es ist so verdammt schwer, es sein zu lassen!«, seufzte sie.
Tell nickte. Davon konnte er ein Lied singen.
Bald füllte sich das Zimmer mit kalter Luft und Rauch.
Verstohlen sah er sich um. In all den Jahren hatte sich dieses Büro nicht geändert: Der Schreibtisch, zwei Stühle und ein kleiner runder Tisch waren die einzigen Möbelstücke, abgesehen vom obligatorischen Wandregal mit Ordnern und Gesetzbüchern. Keine Topfpflanzen, keine persönlichen Gegenstände wie Fotos von Kindern oder Enkeln. Hatte sie denn welche? Und was war das für ein Zuhause, in das sie sich in ein paar Jahren zurückziehen würde?
Aus irgendeinem Grund bildete er sich ein, dass auch sie bis spätabends im Büro blieb, um den Moment hinauszuzögern, in dem man die Tür zu einer leeren Wohnung öffnete.
Mit schmerzhafter Deutlichkeit wurde ihm bewusst, dass er so sein Dasein sah, seit Seja wieder aus seinem Leben verschwunden war. Sie hatte sich genauso gründlich in Luft aufgelöst wie sein altes Hohelied auf das Singleleben.
Möglicherweise hatte er ebenso für Carina empfunden. Er war verliebt in sie gewesen, jedenfalls verliebt genug, um schließlich seine Ängste mitsamt seinem Zynismus über Bord zu werfen und die ganze Chose mit Verlobung und Gelübden von Ewigkeit und Treue zu wagen. Und trotzdem hatte es nicht gehalten.
Als Ann-Christine Östergren den Kopf zur Tür drehte, um den Rauch hinauszublasen, konnte er sie in Ruhe mustern. So geistesabwesend hatte er sie
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