Winters Herz: Roman (German Edition)
lächelte. Seine Augen waren dunkler, als sie sie in Erinnerung hatte. Er machte den Mund auf, aber sie hörte keine Worte, weil er mit blauen Steinen angefüllt war. Während er sprach, fielen sie nacheinander zu Boden. Cass griff nach ihnen, aber sie schlüpften ihr durch die Finger. Das verstand sie jetzt: halb von dieser Welt, halb aus einer anderen, und jeder einzelne von ihnen eine Lüge. Katzengold. Sie ließen sich nicht greifen. Er ließ sich nicht greifen.
Sie öffnete die Augen und sah blassblaue Augen auf sich gerichtet. Sie holte tief Luft. »Pete.«
Er lächelte, und seine Hand umfasste ihre. »Du bist wieder da. Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht.«
»Du hast dir Sorgen gemacht?«
Pete lachte, und das rief Erinnerungen in ihr wach. Das war ein Klang aus guten Zeiten, bevor sie beide verschwunden waren. Er erinnerte Cass an den Tag, den sie mit Remick verbracht hatte, als sie gerade hier eingetroffen waren und er zu Besuch gekommen war und sie wie eine Familie einen Spaziergang im Schnee gemacht hatten.
Sie schloss die Augen. Sie konnte das Buch riechen, faulig wie allzu lange abgehangenes Fleisch, und dann kam die Erinnerung an die Hände des Lehrers auf ihrem Körper. Sie öffnete die Augen wieder und sah Pete an. Seine Augen waren durchsichtig hell, und sie hatte das Gefühl, direkt in ihn hineinsehen zu können.
»Du hast mir gefehlt«, sagte sie. »Du weißt gar nicht wie sehr.«
»Sorry, dass ich mich ein bisschen verspätet habe.«
Sie boxte ihn spielerisch an den Oberarm, erwiderte sein Lächeln. Das fühlte sich gut an.
»Wenn du dich in den letzten Weltwinkeln rumtreibst …«
Sein Lächeln verblasste. Cass sah sich um und stellte fest, dass Ben nirgends zu sehen war. Sie setzte sich auf. »Wo ist …?«
»Ben ist gut aufgehoben. Dein Dad macht einen Spaziergang mit ihm. Er ist wirklich sehr hilfsbereit gewesen, viel mehr als früher. Jedenfalls hat Ben so ausgesehen, als bräuchte er etwas frische Luft. Cass, alles in Ordnung mit dir? Wie lange hast du dich schon hier verkrochen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Vielleicht brauchst du auch etwas frische Luft. Du hast im Schlaf ziemlich verrücktes Zeug geredet.«
Sie runzelte die Stirn.
»Das hat wie eine Art Rückblende geklungen.«
»Tatsächlich?«
»Irgendwas aus deiner Kindheit – irgendwas über Hölle und Verdammnis.« Er sah zur Tür hinüber. »Das muss der Einfluss deines Vaters sein. Cass, ist mit dir wirklich alles in Ordnung?«
Die wirkliche Frage stand in seinem Blick: Wie konnte etwas mit ihr nicht in Ordnung sein, nachdem er zu ihr zurückgekommen war? Was um Himmels willen konnte sie daran hindern, darüber glücklich zu sein? Vor Cass’ innerem Auge erschien ein Bild: Remicks Hände, die auf ihren Brüsten lagen. Sie erschauderte.
»Sollte Ben nicht in der Schule sein?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die hat geschlossen. Die Heizung ist ausgefallen. Aber er muss sowieso nicht mehr hin, stimmt’s? Ich meine, wir fahren doch weg, nicht wahr?«
Sie konnte nach Aldershot zurückgehen, ihr altes Leben im Kreis anderer Frauen wieder aufnehmen, sich mit Leuten umgeben, die vertrauenswürdige Freunde waren. Sie brauchte Remick nie wiederzusehen, außer vielleicht in ihren Träumen.
»Wenn du möchtest, Cass … wenn du das willst.«
»Ja.« Sie rang sich ein Lächeln ab und merkte nun, dass ihr Mann eigentlich genau wie früher aussah; ließ man seine Magerkeit und die Brandnarben im Gesicht außer Acht, war er derselbe Pete. Sie konnte ihr Leben zurückhaben, Darnshaw vergessen. Dies würde eine Episode von Verrücktheit, von Illusionen sein, von denen keine real war. Sie konnte übers Moor entkommen, und alles würde hinter ihr verblassen, vom Nebel verschluckt werden.
Sie ergriff Petes Hand. »Ja, das will ich. Ich kann’s kaum noch erwarten.«
Die Wohnungstür wurde geöffnet, fiel ins Schloss, und Ben kam hereingerannt und lächelte auf eine Art, die sie schon lange nicht mehr gesehen hatte. Er breitete die Arme aus und umarmte seinen Dad stürmisch. Cass zerzauste ihm das Haar, zog beide lachend an sich. Dann spürte sie eine Hand auf ihrem Arm, sah auf und war augenblicklich wieder ein kleines Mädchen, über dem eine dunkle Gestalt aufragte, die sein Kleid prüfend anstarrte.
Ihr Vater sprach. »Ich muss mit dir reden, Cass.«
Nicht gut genug , dachte sie.
Die Erregung ihres Vaters zeigte sich darin, wie hektisch rasch er Cass musterte – von den Augen übers Haar bis zu ihrer
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