Winters Herz: Roman (German Edition)
ein anderes Apartment entschieden hatte. Den Code 1234Z konnte man sich leicht merken.
Trotzdem wünschte sie sich, sie hätte Mr. Remick gefragt, ob er wisse, wer in der Nummer 10 wohnte. Und wie lange er selbst schon in Darnshaw lebte, da er zu Mrs. Bentleys besonderen Kunden gehörte und sogar ihren Namen kannte. Cass stellte fest, dass sie den Wunsch hatte, ihn vieles zu fragen.
Wirklich schade, dass er so früh hatte gehen müssen. In Mr. Remicks Anwesenheit war die Zeit förmlich verflogen. Nun war Cass wieder allein, und weil Ben nicht da war und Krach machte, war es in der Foxdene Mill eindeutig zu still. Sie dachte an die leeren Fensterhöhlen der Wohnung unter ihrer und spürte einen leichten Schauder. Jammerschade, dass nicht mehr Leute eingezogen waren. Mr. Remick hätte sogar ein Nachbar sein können. Vor ihrem inneren Auge stand plötzlich das Bild, wie er durch eine Fensterhöhle hereinkletterte, und brachte sie zum Lächeln.
Cass trat an ihr eigenes Fenster. Sie sah den Schnee lautlos vom Himmel rieseln und alles wie mit Watte bedecken. In der Abenddämmerung wirkten die Hügel etwas heller als der Himmel. Sie war in Sorge wegen Ben. Er würde später durch Nacht und Schnee heimgehen müssen. Aber in Begleitung eines Freundes würde es ihm Spaß machen, eine neue Fährte zu hinterlassen und auf dem ganzen Heimweg Schneebälle zu werfen.
Sie packte die letzten Kartons aus, legte sie flach zusammen und stapelte sie ordentlich auf. Es war gut, das hinter sich zu haben – es machte das Apartment wohnlicher –, aber es bedeutete zugleich, dass sie in Darnshaw bleiben würde. Bisher war sie halb sesshaft, halb auf dem Sprung gewesen. Sie dachte an die Leute, die sie kennengelernt hatte: Mrs. Bentley mit dem verdrießlichen Blick, die ihre Einkäufe wortlos über den Scannerschob. Die laute, leicht ordinäre Sally … und Mr. Remick. In ihren Gedanken lächelte er und sah sie mit seinen klaren blauen Augen an. Er konnte bestimmt in die Menschen hineinsehen. Sie stellte sich vor, wie sie eine Hand ausstreckte und die leicht eingefallene Wange des Lehrers berührte, seinen Dreitagebart unter den Fingern spürte. Wie er die Arme – dünn, aber sehnig – um sie legte.
Cass verdrängte diesen Gedanken, erinnerte sich an Pete. Auch wenn ihr Mann größer, stärker, ganz anders als Mr. Remick gewesen war, glaubte sie, den Lehrer attraktiv finden zu können. Das lag vor allem daran, wie eindringlich er einen mit diesen klaren Augen ansah.
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Kurz nach 18 Uhr. Sally hatte nicht erwähnt, wann sie Ben nach Hause bringen würde, und Cass hatte nicht daran gedacht, sie zu fragen. Wir rufen an, wenn wir aufbrechen . Hatte sie das nicht gesagt? Wenigstens wusste Cass, wo sie wohnte. Ein Glück, dass sie Sally droben im Moor aufgelesen hatten. Sie fragte sich, ob Ben sich beim Heimkommen wieder über ihren Geruch beschweren würde, und versuchte, nicht zu grinsen.
Ben würde sich amüsieren; das würden sie alle drei tun: Sally und Damon und er.
Mr. Remick hatte Bens Zeichnung auf dem Sofa liegen gelassen. Sie griff danach, strich sie glatt und fuhr mit einem Finger über die Stelle, wo sein Bleistift das Papier durchstoßen hatte. Sie stellte sich vor, wie Ben dabei ausgesehen, wie seine Augen geglitzert hatten, als er das Gesicht unkenntlich gemacht hatte, bevor er mit dem intensivsten Blau, das er finden konnte, diese Steine – falls es welche waren – auf den gelben Sand gemalt hatte. Dann runzelte sie die Stirn, weil sie sich fragte, wie er darauf gekommen sein mochte.
Cass sah nochmals auf die Uhr und wünschte sich, ihr Sohn käme bald nach Hause. Die Nacht sank herab, draußen schneitees weiter, aber Sally rief noch immer nicht an. Cass lehnte sich in die Polster zurück, schloss die Augen und ließ die Zeichnung neben sich aufs Sofa fallen.
Als Cass sich aufsetzte und aus dem Fenster sah, war es nicht mehr dunkel. Nebel hatte die Hügel und den Fluss verschluckt und reflektierte jetzt das Mondlicht, sodass es draußen fast taghell war. Als sie auf die Uhr sah, war es schon spät – nach 21 Uhr –, aber Sally hatte noch immer nicht angerufen. Sie musste eingenickt sein; nun hatte sie Kopfschmerzen.
Sie ging vom Fenster zum Telefon hinüber und fragte sich, ob sie vielleicht zu fest geschlafen hatte, um es zu hören, falls es doch geklingelt hatte. Sie ballte die Hände zu Fäusten, streckte die Finger wieder. Wie konnte Sally
Weitere Kostenlose Bücher