Winters Herz: Roman (German Edition)
während sie über die Knöpfe des Gamecontrollers tanzten, die Tod und Verderben brachten. Er stieß kein Triumphgeheul mehr auswie früher, sondern sein Ausdruck blieb leblos. In seinem Blick lag weder Erregung noch Schmerz, auch keine Verbindung zu seinem Vater oder sonst etwas.
Cass wandte sich von ihm ab und schaltete ihren Computer ein. Ihre Finger fühlten sich taub an. Sie berührte die Tasche, in der das zusammengeknüllte Stück Papier steckte.
Sie musste ihre Arbeit checken, damit sie sich morgen mit Lucy treffen und sie bitten konnte, die Dateien noch mal zu versenden. Vielleicht kannte Lucy ja auch jemanden, dessen Computer nicht verseucht war und der ihr diesen kleinen Gefallen tun würde.
Du bist richtig scheiße in deinem Job. Hatte ihr Sohn das wirklich gesagt?
Cass starrte den Bildschirm an, fühlte ihre Frustration wachsen. Noch vor Kurzem hatte sie auf Knopfdruck selbst Mails verschicken können. Jetzt brach alles um sie herum zusammen: die Telefone, der Verkehr – hätte wenigstens noch irgendwas davon funktioniert, zum Beispiel ihr Handy, wäre alles nicht so schlimm gewesen. Sie wäre zu dem Kunden gefahren, hätte die geänderten Dateien persönlich überbracht, ihm das Missgeschick nach Möglichkeit erklärt oder wenigstens mit ihm gesprochen. Aber dies …? Man hätte glauben können, die ganze Welt sei zum Stehen gekommen.
Alle Dateien waren vorhanden, ordentlich in dem Kundenordner abgelegt. Cass klickte die erste an und gelangte zur Begrüßungsseite der Website. Das Logo ihres Kunden erschien, und die ersten Bilder, die sie dort platziert hatte, aber der Rest …
Cass verschlug es den Atem.
Die erste Produktabbildung war durch ein Hakenkreuz ersetzt worden, unter dem in roten Großbuchstaben FUCK YOU stand. Absurderweise hatten einige Abbildungen überlebt und teilten sich die Website mit weiteren Hasssymbolen. Die Produktbeschreibungen waren jedoch durchgängig ersetzt worden. Er lebt, stand nun dort. Er herrscht. Er wird triumphieren. Er kommt. Ganz unten war ein Kreuz abgebildet, das in einem Bogen endete. Es sah ein bisschen wie eine Sichel oder ein auf dem Kopf stehendes Fragezeichen aus. Darunter: Er ist dein Vater.
Cass starrte es an: ein Kreuz der Verwirrung, genau wie Lucy es beschrieben hatte.
Sie drehte sich um, um nach Ben zu sehen. Er starrte noch immer unverwandt den Bildschirm an, dessen Widerschein sein blasses Gesicht erhellte. Cass hatte das Gefühl, einen Eisblock im Magen zu haben. Sie drehte sich um und öffnete weitere Dateien. Manche waren verändert worden, andere nicht. Sie zog die Nachricht ihres Kunden aus der Tasche. Was soll der Scheiß? Hab die Daten wie angewiesen aufgespielt. Soll das ein Witz sein? Website jetzt völlig unbrauchbar. Muss schleunigst gefixed werden!
»Jesus«, ächzte Cass und schlug die Hände vors Gesicht.
»Nein«, sagte eine Stimme hinter ihr. »Nicht er. Keinesfalls. Er kommt, Mami.«
Als Cass sich umsah, starrte Ben mit unnatürlich nach oben gerollten Augen die Zimmerdecke an. Der Widerschein des Fernsehschirms ließ das Weiße seiner Augen leuchten.
Cass öffnete den Mund, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Sie packte ihren Sohn an den Armen, zog ihn zu sich heran, fand auch ihre Stimme wieder. »Ben?« Sie schüttelte ihn, fasste mit einer Hand unter sein Kinn, drehte sein Gesicht zu sich.
Seine Pupillen kamen unter den Lidern hervor, erwiderten ihren Blick. »Ich will mein Abendessen«, sagte er.
Cass sah zu, wie ihr Sohn aß, wandte den Blick keine Sekunde von ihm ab. Sie wollte nicht wegsehen, denn sie fürchtete eine Wiederholung des unheimlichen Tricks mit den Augen. Der Gedanke an diese glänzenden Augäpfel ließ sie erschaudern. Das war nicht er, dachte sie. Ben stopfte sich riesige Ladungen Bohnen in den Mund, kaute mechanisch, starrte dabei ins Leere. Als er fertig war, schob er den Teller weg und wollte sofort wieder aufstehen.
»Ben?«
Ihr Sohn erstarrte mit einer Hand auf dem Tisch.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Er zuckte mit den Schultern.
»Mit meiner Arbeit am Computer ist irgendetwas passiert – ein paar wirklich wichtige Dateien sind korrumpiert. Warst du an meinem Rechner? Hast du vielleicht sogar damit gespielt?«
Ein knappes nachdrückliches Kopfschütteln.
»Weißt du, was mit den Dateien passiert sein könnte?«
Endlich wandte Ben sich ihr zu. Seine Augen leuchteten. Er öffnete den Mund, aber nicht zu einem Lächeln; er riss ihn nur weiter und weiter auf, sodass sie
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