Winters Knochen
Fäuste schwingend. Ree kannte nur wenige Einzelheiten über die bittere Abrechnung, die in diesen einst heiligen Mauern ihren Anfang nahm, doch plötzlich begriff sie bis ins Mark, wie es unter Blutsverwandten zu solchem Hass kommen konnte, der für immer toben würde. Wie jeder Streit, der niemals endete, begann es mit einer Lüge. Mit einem großen Mann und einer Lüge.
Der große Mann und Prophet, der Botschaften aus der Faust der Götter in den Eingeweiden eines funkelnden goldenen Fisches gefunden hatte, angelockt durch Gebete aus einem schwarzen Fluss weit draußen im Osten, nahe am Meer, war Haslam, Frucht des Glaubens. Der funkelnde Fisch hatte ihm Zeichen enthüllt, ihm ganz allein, und er war der Karte gefolgt, die ganz klein in die goldenen Innereien gezeichnet war, und hatte sie alle über Tausende mühsamer Meilen geführt, bis er diese einsamen, steinigen Senken müden Bodens zum makellosen Garten erklärte, zum Paradies, das auf der Karte in den Eingeweiden zu finden war, die durch die Faust der Götter vor seinen Augen erschienen war.
Ree verließ die Schienen und überquerte ein ebenes Feld, um zu den Hängen zu gelangen, die voller Höhlen waren. Unkraut und Gräser waren von einer Schicht aus Eis überzogen, steifgefroren brachen sie unter ihren Füßen. Ree schritt weit aus, und die schimmernden Gräser lösten sich klirrend auf. Die Höhlen waren von unten leicht auszumachen, aber schwer zu erreichen. Ree krallte sich an den jungen Bäumen fest, um sich hochzuziehenund den steilen Anstieg zu jener schräg klaffenden Höhle zu erreichen, die sie am besten kannte, die Höhle mit der Steinmauer in der Öffnung.
Haslam war aus Gottes Wasser entsprungen, das auf Streunersamen gespuckt worden war, von flüchtigem Glauben war er für die Menschheit geformt und unter das Wandernde Volk entsandt worden, um sie und alle anderen wie Lumpen aufzusammeln und ein neues Volk zu gründen, das er zu jenem Garten führen sollte, den die Faust erwählt hatte, damit es sich dort nach sechstausend Jahren Wanderschaft ausruhen konnte und sesshaft wurde, genau wie in dem funkelnden Fisch zu lesen stand.
Die Hälfte des Höhleneingangs war durch eine Steinmauer verschlossen, die Schutz bot. Die verkohlten Überreste von vielen Feuern lagen verstreut auf dem staubigen Höhlenboden herum. Ree beugte sich vor und sammelte rasch einige versengte Holzstücke auf. Ganz weit hinten in der Höhle fand sie einen Stapel kleiner Scheite. Das Holz lag schon eine ganze Weile dort und zerfiel in ihren Händen. Aber es würde brennen, und Ree sammelte die Stücke auf.
Es hatte eine Landkarte zu diesem Paradies gegeben, doch irgendetwas widerfuhr dem Wandernden Volk, das sich neben den sesshaften Göttern niederließ, und nach nicht einmal dreißig Jahren fiel das Dach ihres Lebens ein, Mauern brachen, alte Sitten kehrten nach Jahrzehnten der Missachtung gierig zurück, und die Faust der Götter nahm ihren Sitz in den Wolken, um dort zu schmollen und alles noch einmal zu überdenken. Ree wusste nichtviel über Religion oder den Untergang. Die Prophezeiungen von Haslam, Frucht des Glaubens, kamen über Generationen zu ihr als heiseres, göttliches Gemurmel eines großen Mannes, der mit einer Lüge prahlte, die wenig Sinn ergab und kein Ende hatte. Auch der Grund für die bittere Abrechnung war nicht klar, vielleicht gab es noch lebende Dollys, die die Wahrheit kannten, aber niemand sprach in Rees Gegenwart darüber. Alles, was sie sagten, war, es habe da eine Frau gegeben.
Ree zog den Mantel, ihr Sweatshirt und den nassen Rock aus. Sie landeten schwer auf dem Boden, Stoffklumpen voller Eis. Ree hatte einen ansehnlichen Stapel Restholz in die Ecke neben der Steinmauer gelegt. Aber sie hatte kein Reisig zum Anzünden, und wieder hinaus in das Wetter wollte sie nicht. Es waren die brutalen uralten Sitten, die jeden Morgen aufs Neue über ihre Welt kamen und die Dollys dazu brachten, das Blut aus Daddys Herz zu zapfen und sein Fleisch irgendwo weitab von Pfaden und Wolken zu verstecken. Ihre Stiefel waren hart wie Eisen, aber Ree behielt sie an. Sie zog ihren Schlüpfer aus, zog sich dann das Unterhemd über den Kopf und legte es ab. Nackt bis auf die Stiefel kauerte sie sich neben den Holzstapel und stopfte die trockenen Kleidungsstücke neben die Erfolg versprechendsten Holzkohlen. Im Mantel hatte sie ein Streichholzheftchen und einen halben Joint. Sie hielt den Atem an, entzündete ein Streichholz und hielt die Flamme vorsichtig
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