Wintersturm
sagte Mrs.
Wiggins.
»Das sagst du immer«, knurrte ihr Mann.
»Nein… eigentlich nicht. Er hat so etwas an sich… die Art wie er sich nach vorn beugt… Keine Augenweide.«
Jack Wiggins starrte seine Frau an. »Ich dachte gerade, daß er genau der Typ ist, der einem jungen Mädchen den Kopf verdrehen könnte.«
»Der? Ach, du meinst den jungen. Ich spreche von dem anderen Kerl – dem Professor.«
Jack blickte seine Frau herablassend an. »Genau aus diesem Grunde sage ich immer, Frauen sind keine guten Zeugen und sollten niemals Geschworene sein. Niemand spricht von diesem Professor Harmon. Der hat Selbstmord verübt. Die sprechen von diesem Schurken Legler.«
Mrs. Wiggins biß sich auf die Lippen. »Ich verstehe schon.
Ja, ja. Ich glaube, du hast recht. Es ist nur… na gut…«
Ihr Mann stand schwerfällig auf: »Wann ist das Abendessen fertig?«
»Oh, gleich. Es ist nicht leicht, sich um das Essen zu kümmern, wenn man an den kleinen Michael und an Missy denkt… Weiß der Himmel, wo… Man denkt, man möchte ihnen einfach helfen. Es ist mir ganz gleich, was die über Nancy Eldredge sagen. Sie kam nicht allzu oft ins Geschäft, aber wenn sie kam, habe ich immer gern zugesehen, wie sie mit den Kindern umging. Weißt du, das hier läßt unseren täglichen kleinen Ärger so unwichtig erscheinen.«
»Was für täglichen kleinen Ärger haben wir denn?« Sein Ton wurde beißend und argwöhnisch.
»Nun…« Mrs. Wiggins preßte die Lippen zusammen. Sie hatten im letzten Sommer sehr viel Ärger mit Ladendieben gehabt. Jack regte sich schon auf, wenn er nur daran dachte.
Das war der Grund, weshalb sie es den ganzen Tag über einfach nicht für sinnvoll gehalten hatte, ihm zu erzählen, daß sie absolut sicher war, daß Mr. Parrish heute morgen eine große Dose Kinderpuder vom Regal gestohlen hatte.
23
Auch in einer bescheidenen Wohnung in einer Straße hinter der St. Francis Xavier Kirche in Hyannis Port waren die Fünfuhrnachrichten eingeschaltet, Patrick Keeneys Familie begann gerade mit dem Abendessen. Alle Augen klebten an dem kleinen tragbaren Gerät in dem überfüllten kleinen Speisezimmer.
Ellen Keeney schüttelte den Kopf, als das Bild von Michael und Missy auf dem Bildschirm erschien. Unwillkürlich sah sie einen Moment lang zu ihren kleinen Kindern hinüber – Neil und Jimmy, Deirdre und Kit… eins… zwei… drei… vier. Immer wenn sie mit ihnen zum Strand ging, war das so. Sie hörte nie auf, sie zu zählen. Lieber Gott, laß nicht zu, daß ihnen etwas passiert, niemals, bitte. Das war ihr Gebet.
Ellen ging täglich in die St. Francis Kirche zur Kommunion, und besuchte meistens dieselbe Messe wie Mrs. Rose Kennedy.
Sie erinnerte sich an die Tage, nachdem der Präsident und dann Bobby ermordet worden waren, als Mrs. Kennedy immer in die Kirche kam, ihr Gesicht vom Schmerz gezeichnet, aber beherrscht und gefaßt. Während der Messe sah Ellen nie zu ihr hin. Arme Frau, sie hatte einen Anspruch darauf, irgendwo für sich allein zu sein. Oft lächelte Mrs. Kennedy und nickte und sagte manchmal »Guten Morgen«, wenn sie nach der Messe zufällig im gleichen Augenblick hinausgingen. Wie hält sie das aus? fragte sich Ellen. Wie kann sie das aushalten? Jetzt dachte sie genau das gleiche. Wie kann Nancy Eldredge das aushalten?… besonders wenn man bedenkt, daß ihr das schon einmal passiert ist.
Der Kommentator sprach gerade über den Artikel im Lokalanzeiger – daß sich die Polizei bemühte, den Verfasser aufzuspüren. Ellen hatte seine Worte kaum aufgenommen, als sie schon zu der Überzeugung gelangte, daß Nancy keine Schuld am Tode ihrer Kinder trug. Es war einfach nicht möglich. Keine Mutter mordete ihr eigen Fleisch und Blut. Sie merkte, daß Pat sie ansah und lächelte kurz zu ihm hinüber –
ein Lächeln, das besagte: Wir sind vom Glück gesegnet, mein Liebling, wir sind vom Glück gesegnet.
»Er ist furchtbar dick geworden«, sagte Neil.
Überrascht starrte Ellen ihr ältestes Kind an. Als er sieben Jahre alt war, hatte Neil ihr Sorgen gemacht. Er war so unternehmungslustig, so unberechenbar. Er hatte das dunkelblonde Haar von Pat und graue Augen. Er war klein für sein Alter, und sie wußte, daß er darüber ein wenig traurig war, aber von Zeit zu Zeit tröstete sie ihn: »Vati ist groß, und dein Onkel Tom ist groß, und eines Tages bist du auch groß.« Aber Neil sah immer noch jünger aus als alle anderen in seiner Klasse.
»Wer ist dick geworden, Schatz?« fragte sie
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