Winterträume
Abenddämmerung und an eine lange Kolonne französischer Infanteristen, die durch die Stadt marschierten? Du hast deine blaue Uniform getragen, Charley, mit den kleinen Zahlen am Kragenspiegel. Du solltest eine Stunde später an die Front aufbrechen. Versuch dich zu erinnern, Charley!«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und stieß einen seltsamen kleinen Seufzer aus. Elaine saß kerzengerade auf ihrem Stuhl und schaute mit weit aufgerissenen Augen von ihm zu ihr und wieder zu ihm.
»Erinnerst du dich an die Pappeln?«, fuhr Diana fort. »Die Sonne ging gerade unter, die Blätter waren silbern, und eine Glocke läutete. Erinnerst du dich, Charley? Erinnerst du dich?«
Erneut Schweigen. Charley gab ein sonderbares leises Stöhnen von sich und hob den Kopf.
»Ich kann das alles nicht – verstehen«, murmelte er heiser. »Es ist so merkwürdig.«
»Erinnerst du dich nicht mehr?«, rief Diana. Die Tränen strömten ihr aus den Augen. »O Gott! Erinnerst du dich nicht? Der braune Weg und die Pappeln und der gelbe Himmel.« Plötzlich sprang sie auf. »Erinnerst du dich nicht?«, rief sie ungestüm. »Denk nach, denk nach – denk an die Zeit. Die Glocken läuten, Charley, die Glocken läuten! Und dir bleibt nur noch eine Stunde!«
Jetzt stand er, taumelnd und schwankend, auf.
»A-a-a-ah!«, rief er.
»Charley«, schluchzte Diana, »erinnere dich, erinnere dich, erinnere dich!«
»Ja!«, sagte er heftig erregt. »Jetzt weiß ich es – ich erinnere mich, ja, ich erinnere mich!«
Mit einem erstickten Schluchzer schien sein ganzer Körper unter ihm zu erschlaffen, und er sackte bewusstlos auf seinen Stuhl.
Augenblicklich waren beide Frauen bei ihm.
»Er ist ohnmächtig geworden!«, rief Diana. »Schnell, holen Sie Wasser!«
»Sie teuflisches Weib!«, schrie Elaine mit verzerrtem Gesicht. »Sehen Sie, was passiert ist! Welches Recht haben Sie dazu? Welches Recht? Welches Recht?«
»Welches Recht?« Diana wandte sich mit schwarzen, schimmernden Augen zu ihr um. »Alles Recht der Welt. Ich bin seit fünf Jahren mit Charley Abbot verheiratet.«
Anfang Juni heirateten Charley und Diana in Greenwich ein zweites Mal. Nach der Hochzeit hörten ihre ältesten Freunde endgültig auf, sie Diamond Dick zu nennen – es sei schon seit einigen Jahren ein äußerst unpassender Name, sagten sie, und auf ihre Kinder würde er eine beunruhigende, wenn nicht regelrecht schädliche Wirkung haben.
Doch vielleicht, sollte sich einst die Gelegenheit dazu ergeben, würde Diamond Dick von dem grellbunten Buchumschlag erneut zum Leben erwachen und mit glitzernden Sporen und im Wind flatternden Wildlederfransen in die gesetzlosen Berge reiten, um ihr Eigentum zu schützen. Denn unter all ihrer Sanftheit war Diamond Dick immer schon hart wie Stahl – so hart, dass die Jahre darum wussten und für sie stillstanden, und die Wolken sich auseinanderschoben, und ein kranker Mann, der des Nachts jene unermüdlichen Hufschläge hörte, aufstand und die dunkle Last des Krieges von seinen Schultern warf.
Absolution
I
Es gab einmal einen Priester mit kalten, wässrigen Augen; der weinte in der Stille der Nacht kalte Tränen. Er weinte, weil die Nachmittage so heiß und lang waren und weil er sich unfähig fühlte, die mystische Vereinigung mit unserem Herrn ganz zu erreichen. Manchmal, gegen vier, hörte er, wie auf dem Weg vor seinem Fenster schwedische Mädchen raschelnd vorübergingen, und empfand ihr schrilles Lachen als einen schneidenden Missklang, der ihn laut beten und die Dämmerung herbeiflehen ließ. Gegen Abend dann beruhigten sich die lachenden Stimmen. Aber mehrere Male war er zur Dämmerstunde an Rombergs strahlend hell erleuchtetem Drugstore mit den blitzenden Hähnen der Limonadenbar vorbeigekommen, und dabei hatte er den schrecklich süßen Duft billiger Toilettenseife in der Luft wahrgenommen. Immer wenn er samstags abends vom Beichthören zurückkam, führte ihn sein Weg dort vorbei. Mit der Zeit hielt er sich tunlichst auf der anderen Straßenseite, so dass der Seifenduft ihn nicht erreichte, sondern drüben weihrauchähnlich zum sommerlichen Mond emporstieg.
Vor der wahnsinnigen Hitze des Nachmittags aber gab es kein Entrinnen. So weit er von seinem Fenster sehen konnte, drängten die Weizenfelder von Dakota in das Tal des Red River. Das war ein fürchterlicher Anblick, und wenn er die Augen gequält auf das Teppichmuster senkte, verirrten sich seine brütenden Gedanken in einem grotesken Labyrinth,
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