Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Winterträume

Winterträume

Titel: Winterträume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Scott Fitzgerald
Vom Netzwerk:
morgen Abend um sechs Uhr an.«
    Als er fertig war, eilte er aus der Wohnung und lief zum Telegrafenamt neben der Subway. Er besaß kaum noch hundert Dollar auf dieser Welt, doch der Brief zeigte, dass sie ›nervös‹ war, und so blieb ihm keine andere Wahl. Er wusste, was ›nervös‹ bedeutete – dass ihre Gefühle gedrückt waren, ja dass die Aussicht, in ein Leben der Armut und des Existenzkampfs hineinzuheiraten, ihre Liebe einer zu großen Belastung aussetzte.
    George O’Kelly erreichte die Versicherungsfirma in seinem üblichen Laufschritt, jenem Laufschritt, der ihm fast zur zweiten Natur geworden war und seine dauernde Anspannung wohl am besten zum Ausdruck brachte. Er begab sich geradewegs ins Büro des Geschäftsführers.
    »Ich möchte Sie sprechen, Mr. Chambers«, verkündete er außer Atem.
    »So?« Zwei Augen, Augen wie Winterfenster, blickten ihn gnadenlos unpersönlich an.
    »Ich möchte vier Tage Urlaub haben.«
    »Aber Sie hatten doch erst vor zwei Wochen Urlaub!«, sagte Mr. Chambers erstaunt.
    »Das stimmt«, räumte der unglückliche junge Mann ein, »aber jetzt brauche ich wieder frei.«
    »Wo waren Sie denn letztes Mal? Zu Hause bei Ihrer Familie?«
    »Nein, in… in einer Stadt in Tennessee.«
    »Und wo wollen Sie dieses Mal hin?«
    »In… in eine Stadt in Tennessee.«
    »Beständig sind Sie immerhin«, sagte der Geschäftsführer trocken. »Mir war allerdings nicht bewusst, dass Sie hier als Handlungsreisender angestellt sind.«
    »Das bin ich auch nicht!«, rief George verzweifelt. »Aber ich muss trotzdem fahren.«
    »Na schön«, sagte Mr. Chambers, »dann brauchen Sie aber auch nicht wiederzukommen. Nie mehr!«
    »Gut.« Und zu seinem eigenen wie zu Mr. Chambers’ Erstaunen färbte sich Georges Gesicht vor Freude rosarot. Er war glücklich, ja euphorisch – zum ersten Mal seit sechs Monaten war er vollkommen frei. Tränen der Dankbarkeit standen in seinen Augen, und er drückte Mr. Chambers herzlich die Hand.
    »Ich danke Ihnen«, sagte er in einer Aufwallung des Gefühls. »Ich möchte gar nicht wiederkommen. Ich glaube, ich wäre verrückt geworden, wenn Sie gesagt hätten, ich könne wiederkommen. Ich hätte nur nicht selber kündigen mögen, verstehen Sie, und ich möchte Ihnen danken, dass Sie – dass Sie mir gekündigt haben.«
    Er winkte großmütig mit der Hand, rief laut: »Sie schulden mir noch drei Tagesgehälter, aber die schenke ich Ihnen!«, und eilte aus dem Büro. Mr. Chambers wählte die Nummer seiner Stenographin und fragte sie, ob O’Kelly in letzter Zeit sonderbar gewirkt habe. Er hatte im Laufe seines Arbeitslebens vielen Männern gekündigt und alle möglichen Reaktionen erlebt, doch dass ihm einer dankte, das war bisher nicht vorgekommen – noch nie.
    II
     
    Jonquil Cary war ihr Name, und in George O’Kellys Augen hatte nichts je so frisch und blass ausgesehen wie ihr Gesicht, als sie ihn entdeckte und freudig über den Bahnsteig auf ihn zugelaufen kam. Sie streckte ihm die Arme entgegen, ihren Mund in Erwartung seines Kusses halb geöffnet, doch dann schob sie ihn plötzlich sanft von sich weg und schaute sich leicht verlegen um. Zwei Männer, etwas jünger als George, warteten im Hintergrund.
    »Das sind Mr. Craddock und Mr. Holt«, sagte sie vergnügt. »Du hast sie kennengelernt, als du letztes Mal hier warst.«
    George war irritiert, dass aus dem Kuss eine Vorstellungsrunde geworden war, und vermutete irgendeine verborgene Bedeutung dahinter, und als sich herausstellte, dass das Auto, das sie zu Jonquils Haus befördern sollte, einem der beiden jungen Männer gehörte, wuchs sein Befremden noch. Er fühlte sich dadurch im Nachteil. Auf dem Weg plauderte Jonquil zwischen Vorder- und Rücksitz hin und her, und als er im Schutz der Dämmerung versuchte, heimlich seinen Arm um sie zu legen, zwang sie ihn mit einer raschen Geste, stattdessen ihre Hand zu nehmen.
    »Liegt diese Straße auf dem Weg zu eurem Haus?«, flüsterte er. »Ich erkenne sie gar nicht wieder.«
    »Das ist der neue Boulevard. Jerry hat dieses Auto heute erst bekommen, und er wollte ihn mir kurz zeigen, ehe er uns nach Hause fährt.«
    Als sie zwanzig Minuten später vor Jonquils Haus abgesetzt wurden, schien es George, als habe sich das erste Glück, die Freude, die er ihr auf dem Bahnhof so deutlich an den Augen abgelesen hatte, durch die unerwünschte Autofahrt verflüchtigt. Ein Moment, auf den er sich gefreut hatte, war einfach so verspielt worden, und darüber grämte

Weitere Kostenlose Bücher