Winterträume
kraftlos in der Diele – seit er in New York aufgebrochen war, hatte er kaum einen Bissen gegessen. Mrs. Cary kam zu ihm, zog seinen Kopf zu sich herab und küsste ihn auf die Wange, und er fühlte sich lächerlich und schwach, weil er wusste, dass die Szene am Ende lächerlich und schwach gewesen war. Wäre er doch am Abend vorher aufgebrochen und hätte sich mit gebührendem Stolz ein letztes Mal von ihr verabschiedet.
Das Taxi kam, und eine Stunde lang fuhren diese zwei, die ein Liebespaar gewesen waren, durch die weniger belebten Straßen. Er hielt ihre Hand und wurde im Sonnenschein allmählich ruhiger, weil er – zu spät – erkannte, dass es von Anfang an nichts zu tun oder zu sagen gegeben hatte.
»Ich komme wieder«, erklärte er ihr.
»Ich weiß«, antwortete sie und versuchte, heitere Zuversicht in ihre Stimme zu legen. »Und wir schreiben uns – ab und zu.«
»Nein«, sagte er, »lieber nicht. Das würde ich nicht aushalten. Irgendwann komme ich wieder.«
»Ich werde dich nie vergessen, George.«
Jetzt waren sie am Bahnhof angekommen, und Jonquil begleitete ihn zum Fahrkartenschalter…
»Na, so was – George O’Kelly und Jonquil Cary!«
Ein Mann und eine junge Frau, die George noch aus der Zeit kannte, als er in der Stadt gearbeitet hatte, näherten sich ihnen, und Jonquil schien erleichtert, sie hier zu treffen. Fünf endlose Minuten lang standen sie beieinander und unterhielten sich; dann donnerte der Zug in den Bahnhof, und unter kaum verborgenen Qualen streckte George die Arme nach Jonquil aus. Sie machte einen unsicheren Schritt auf ihn zu, schwankte und drückte ihm dann rasch die Hand, als verabschiedete sie sich von irgendeinem Freund.
»Leb wohl, George«, sagte sie, »ich wünsche dir eine gute Reise.«
»Leb wohl, George. Und besuche uns mal wieder.«
Stumm, beinahe blind vor Schmerz, nahm er seinen Koffer und schaffte es trotz aller Benommenheit irgendwie, in den Zug zu steigen.
An tosenden Straßenkreuzungen vorbei, durch weite Vorstadträume immer schneller auf den Sonnenuntergang zu. Vielleicht würde auch sie den Sonnenuntergang sehen und einen Augenblick innehalten, sich umdrehen und zurückdenken, bevor der Schlaf kam und George für sie in der Vergangenheit versank. Die Dämmerung dieses Abends würde die Sonne, die Bäume, die Blumen und das Gelächter seiner jungen Welt für immer zudecken.
IV
An einem schwülen Nachmittag im September des darauffolgenden Jahres stieg ein junger Mann mit tief gebräunter, kupfergolden leuchtender Gesichtsfarbe in einer Stadt in Tennessee aus dem Zug. Er schaute sich nervös um und schien erleichtert zu sehen, dass niemand gekommen war, um ihn abzuholen. Mit dem Taxi fuhr er zum besten Hotel der Stadt, wo er sich mit einiger Genugtuung als George O’Kelly, Cuzco, Peru, eintrug.
Oben in seinem Zimmer saß er ein paar Minuten am Fenster und schaute auf die vertraute Straße hinab. Dann griff er mit zitternder Hand zum Telefonhörer und wählte eine Nummer.
»Ist Miss Jonquil zu Hause?«
»Am Apparat.«
»Oh…« Nach einem ersten Anflug von Unsicherheit in seiner Stimme fuhr er mit freundlicher Förmlichkeit fort.
»Hier spricht George O’Kelly. Hast du meinen Brief bekommen?«
»Ja. Ich habe damit gerechnet, dass du heute kommst.«
Ihre Stimme, kühl und unbewegt, irritierte ihn, wenn auch auf andere Weise, als er es erwartet hatte. Dies war die Stimme einer Fremden, unaufgeregt, angenehm überrascht, dass er da war – mehr nicht. Er hätte am liebsten sofort wieder aufgelegt und tief Luft geholt.
»Wir haben uns… lange nicht gesehen.« Er schaffte es, dies beiläufig klingen zu lassen. »Über ein Jahr.«
Er wusste, wie lange – auf den Tag genau.
»Ich freue mich wahnsinnig, mal wieder mit dir zu plaudern.«
»Ich bin in einer Stunde da.«
Er legte auf. Vier lange Jahreszeiten war jede Minute seiner freien Zeit von der Vorfreude auf diese Stunde erfüllt gewesen, und nun war sie da. Er hatte es für möglich gehalten, dass Jonquil verheiratet, verlobt, verliebt sein, aber nicht, dass seine Rückkehr sie kalt lassen würde.
Ähnliche zehn Monate wie jene, die gerade hinter ihm lagen, würde er nie wieder erleben, dachte er bei sich. Für einen jungen Ingenieur hatte er in der Tat bemerkenswert gut abgeschnitten – durch Zufall hatten sich ihm zwei ungewöhnliche Gelegenheiten geboten, eine in Peru, wo er gerade herkam, und eine andere, sich daraus ergebende in New York, wohin er jetzt reiste. In dieser
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