Winterträume
an. Doch die literarische Durchführung dieses Experiments scheint ihn nicht wirklich zu interessieren. Mit der Präzision, aber auch der Absehbarkeit einer rückwärtslaufenden Uhr wickelt es sich vor uns ab.
Weit überraschender, komplexer und auch unfassbarer ist im Vergleich mit ›Benjamin Button‹ Fitzgeralds nächste Erzählung. ›Ein Diamant – so groß wie das Ritz‹ ist seine berühmteste und nach dem Urteil etlicher Kritiker seine beste Geschichte – und es passt durchaus ins Schema der Rezeptionsgeschichte dieses wundersamen Autors, dass er sie bei seinen gewohnten Abnehmern nicht unterbringen konnte, sondern nochmals auf The Smart Set ausweichen musste, wo der Text schließlich für bescheidene 300 Dollar gedruckt wurde. Die von ihrem Autor unter »Fantasy« rubrizierte Geschichte zeichnet ein Vexierbild des amerikanischen Traums.
John T. Unger kommt als Sechzehnjähriger aus einer Kleinstadt am Mississippi an die St. Midas’ School bei Boston, das teuerste Internat der USA . Dort lernt er einen vornehmen Jungen namens Percy Washington kennen. Dieser lädt ihn für die Sommerferien zu sich nach Hause in die Montana Rockies ein – ins Märchenschloss seiner sagenhaft reichen Eltern, das in einem nur schwer zu erreichenden und bis dato auch nicht kartografierten Gebiet liegt. Das Anwesen der Washingtons steht auf einem eine Kubikmeile umfassenden, lupenreinen Diamanten. John ist überwältigt von der ihm entgegenschlagenden Pracht, doch nur zu bald lernt er auch deren Kehrseite kennen: Percys Vater zeigt ihm nicht nur das Schloss, sondern auch die Unterkünfte der Sklaven, der etwa zweihundertfünfzig »Neger«, sowie eine Grube, in der zwei Dutzend Männer festgehalten werden. Sie haben versucht, das Gelände auszuspionieren, und müssen ihre Neugier bitter büßen. John schaut in Abgründe; allmählich wird ihm klar, worauf er sich eingelassen hat, besonders, als Percys Schwester Kismine, in die er sich natürlich verliebt, ihm eröffnet, in welch bedrohlicher Situation er sich befindet: Sämtliche Kinder, die bislang wie er jetzt als Spielkameraden der Washington-Kinder eingeladen wurden, sind am Ende der Ferien getötet worden, damit sie das Geheimnis des Diamantenschlosses nicht verraten konnten. John und Kismine beschließen deshalb, bei der nächsten Gelegenheit zu fliehen.
Nun überschlagen sich die Ereignisse. Noch in derselben Nacht wird das Anwesen aus der Luft bombardiert. Offenbar hat ein Flüchtling das Versteck doch verraten können. Es entbrennt ein heftiger Kampf zwischen Fliegern und Fliegerabwehr. Die jungen Leute verfolgen ihn vom Dach des Palastes aus, bevor sie durch ein Felsental zu entkommen suchen. Aus ihrem Versteck sehen sie, wie Vater Washington auf dem Berg versucht, keinen Geringeren als Gott selbst mit dem größten Diamanten der Welt zu bestechen: Gott soll die Weltuhr um einen Tag zurückdrehen, damit wieder alles so ist wie zuvor. Aber Gott schweigt, und die Aeroplane landen. Washington und seine letzten Getreuen verschwinden durch eine Falltür im Berg. Sekunden später wird dieser durch eine gewaltige, lautlose Explosion eingeäschert. Die ganze Szenerie samt Piloten und Flugzeugen verschwindet. John, Kismine und deren Schwester gelangen ins Freie, alle anderen sind tot. Von dem gewaltigen Diamanten gibt es nicht mehr die geringste Spur, und den Überlebenden bleibt nichts übrig, als höchst bescheidene Zukunftspläne zu schmieden – beispielsweise die Eröffnung einer Wäscherei in Johns Heimatort.
Fitzgeralds berühmteste Erzählung hat durchaus ihre Schwächen. Ihre Metaphorik ist plakativ, die Schilderungen der unermesslichen Pracht an Technologie und Luxus haben etwas Redundantes. Die Symbolik erscheint dem heutigen Leser als etwas gar dick aufgetragen. Doch diese Einwände können der Geschichte im Grunde nichts anhaben. Sie lebt ganz von ihrer genialen Grundidee. Das verbindet sie mit Werken der Weltliteratur wie Dr. Jekyll & Mister Hyde von Robert Louis Stevenson oder Das Bildnis des Dorian Gray von Oscar Wilde. Auch diese Autoren haben raffiniertere, subtilere, artistischere Texte geschrieben; aber in den genannten Werken haben sie ein Menschheitsthema auf den Punkt gebracht. Im Falle Fitzgeralds geht es um das Problem des Besitzes. Reichtum, lernen wir, korrumpiert den Menschen, und unermesslicher Reichtum korrumpiert ihn absolut. Die Schätze besitzen den Menschen, nicht umgekehrt, und machen ihn zum Sklaven.
Im Sommer 1922 stellt Fitzgerald
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