Winterträume
Stoddard, ein höchst begehrenswerter und vornehmer Junggeselle, doch den alles entscheidenden Platz zu ihrer Linken nahm nur Charley Paulson ein. Charley mangelte es an Körpergröße, gutem Aussehen und gesellschaftlicher Raffinesse, und das Einzige, was ihn nach Bernice’ neuem Wissensstand als ihren Partner qualifizierte, war die Tatsache, dass er noch nie bei ihr hängengeblieben war. Doch mit den letzten Suppentellern verschwand auch ihr Unmut, und Marjories präzise Lektionen fielen ihr wieder ein. Sie schluckte ihren Stolz hinunter, wandte sich Charley Paulson zu und sprang.
»Finden Sie, ich sollte mir einen Bubikopf schneiden lassen, Mr. Charley Paulson?«
Charley blickte überrascht auf. »Warum?«
»Weil ich es erwäge. Es ist eine so einfache und sichere Art, Aufmerksamkeit zu erregen.«
Charley lächelte liebenswürdig. Er konnte nicht ahnen, dass dies einstudiert war. Er antwortete, er wisse nicht viel über Bubiköpfe. Aber Bernice konnte es ihm erklären.
»Ich möchte ein Vamp sein, verstehen Sie«, verkündete sie frech und erklärte ihm dann, der Bubikopf sei der notwendige Auftakt dazu. Sie fügte hinzu, sie wolle seinen Rat einholen, weil sie gehört habe, dass er, was Mädchen betreffe, über ein so gutes Urteilsvermögen verfüge.
Charley, der von der Psychologie der Frauen so viel verstand wie vom Geisteszustand buddhistischer Mönche, fühlte sich vage geschmeichelt.
»Deshalb habe ich beschlossen«, fuhr sie fort und hob ein wenig die Stimme, »Anfang nächster Woche in den Herrensalon im Sevier Hotel zu gehen, dort auf dem ersten Stuhl Platz zu nehmen und mir einen Bubikopf schneiden zu lassen.«
Sie stockte, als sie bemerkte, dass die Leute um sie herum ihre Gespräche unterbrochen hatten und zuhörten; nach einer Sekunde der Verunsicherung jedoch verfing Marjories Nachhilfe wieder, und sie richtete den Rest ihrer Ausführungen an ein größeres Publikum.
»Natürlich verlange ich Eintritt, aber wenn Sie alle kommen und mir Beistand leisten wollen, verteile ich gerne Karten für die Logenplätze.«
Beifälliges Gelächter brandete auf, unter dessen Deckung G. Reece Stoddard sich rasch zu ihr herüberbeugte und ihr ins Ohr flüsterte: »Ich reserviere jetzt schon eine Loge.«
Sie begegnete seinem Blick und lächelte, als hätte er etwas unübertrefflich Geistreiches gesagt.
»Glauben Sie an den Bubikopf?«, fragte G. Reece mit dem gleichen Unterton.
»Ich finde ihn unmoralisch«, antwortete Bernice ernst. »Aber schließlich muss man die Leute entweder unterhalten, bewirten oder schockieren.« Das hatte Marjorie von Oscar Wilde geklaut. Es erntete wohlgefälliges Gelächter von den Männern und eine Reihe rascher, aufmerksamer Blicke von den Mädchen. Und als hätte sie nichts weiter Witziges oder Bedeutsames gesagt, wandte Bernice sich wieder Charley zu und sprach ihm vertraulich ins Ohr. »Ich würde Sie gern nach Ihrer Meinung zu einigen Leuten fragen. Ich stelle mir vor, dass Sie ein hervorragender Menschenkenner sind.«
Charley erbebte leicht – und machte ihr indirekt ein Kompliment, indem er ihr Wasserglas umstieß.
Als Warren McIntyre zwei Stunden später untätig in der Riege der Herren stand, gedankenverloren den Tanzpaaren zuschaute und sich fragte, wohin und mit wem Marjorie verschwunden war, stahl sich nach und nach eine ganz andere Wahrnehmung in sein Bewusstsein – nämlich die, dass Bernice, Marjories Cousine, in den letzten fünf Minuten mehrere Male abgeklatscht worden war. Er schloss die Augen, öffnete sie und schaute erneut hin. Vor ein paar Minuten hatte sie mit einem Jungen von außerhalb getanzt, was leicht zu erklären war; ein Junge von außerhalb wusste es nicht besser. Doch jetzt tanzte sie mit einem anderen, und dort steuerte mit enthusiastischer Entschlossenheit im Blick schon Charley Paulson auf sie zu. Merkwürdig – Charley Paulson tanzte selten mit mehr als drei Mädchen pro Abend.
Warren war doch sehr erstaunt, als er – nach vollzogenem Wechsel – sah, dass der erlöste Mann kein anderer war als G. Reece Stoddard persönlich. Und G. Reece schien von seiner Erlösung keineswegs begeistert. Als Bernice das nächste Mal in seiner Nähe tanzte, betrachtete Warren sie aufmerksam. Ja, sie war hübsch, ausgesprochen hübsch sogar; und heute Abend wirkte ihr Gesicht richtig lebhaft. Sie hatte jenes Aussehen, das keine Frau, und sei sie eine noch so begabte Schauspielerin, erfolgreich vortäuschen kann – sie sah aus, als amüsiere sie
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