Winterträume
ruhen ließ.
»Margery Lee.«
Inzwischen wurde es immer dunkler und dunkler – all diese Grabsteine brauchten unbedingt einen neuen Anstrich, unbedingt – nur wären sie natürlich dann verhunzt. Trotzdem, man musste sie doch sehen können.
Und dann, nach einer Reihe von Momenten, die erst schnell und dann langsam vorübergingen, sich aber zu guter Letzt in eine unendliche Vielzahl von verschwommenen Strahlen aufzulösen schienen, aus denen sich eine blassgelbe Sonne formte, hörte sie ein mächtiges Knacken, das einbrach in die Ruhe, die sie gerade erst gefunden hatte.
Es war die Sonne, es war ein Licht; eine Fackel, und dahinter noch eine Fackel, und noch eine, und Stimmen; unter der Fackel nahm ein Gesicht Gestalt an, schwere Arme hoben sie hoch, und sie spürte etwas auf ihrer Wange – es fühlte sich nass an. Jemand hatte sie gepackt und rieb ihr das Gesicht mit Schnee ein. Wie lächerlich – mit Schnee!
»Sally Carrol! Sally Carrol!«
Das war der Gefährliche Dan McGrew; die beiden anderen Gesichter kannte sie nicht.
»Kind, Kind! Wir suchen Sie schon seit zwei Stunden! Harry ist schon halb wahnsinnig!«
Rasch kehrte alles wieder zurück an seinen Platz – das Singen, die Fackeln, der große Ruf der Chorvereine. Zuckend lag sie in Pattons Armen und weinte aus tiefstem Herzen.
»Oh, ich will hier raus! Ich will wieder nach Hause. Bringt mich nach Hause« – ihre Stimme schwoll zu einem Schrei, der Harry, der im Nebengang herbeigelaufen kam, das Herz gefrieren ließ. »Morgen!«, schrie sie im Fieberwahn mit zügelloser Leidenschaft. »Morgen! Morgen! Morgen!«
VI
Goldener Sonnenschein in Hülle und Fülle überschüttete das Haus, das den lieben langen Tag auf ein Stück staubige Straße blickte, mit einer Hitze, die zwar kaum noch zu ertragen war, aber trotz allem etwas merkwürdig Trostspendendes hatte. An einem kühlen Plätzchen im Geäst eines Baumes auf dem Nachbargrundstück machten zwei Vögel einen Heidenspektakel, und ein Stück weiter die Straße hinunter verkündete mit melodiösem Singsang eine schwarze Frau, sie habe Erdbeeren zu verkaufen. Es war ein Nachmittag im April.
Sally Carrol Happer, das Kinn auf ihren Arm gestützt, den Arm hinwiederum auf eine alte Fensterbank, guckte verschlafen durch den flirrenden Staub, aus dem zum ersten Mal in diesem Frühjahr die Hitze wellenförmig aufstieg, hinunter auf die Straße. Sie beobachtete mit Interesse, wie ein sehr alter Ford gefährlich knatternd und ächzend um die Kurve bog und unmittelbar vor ihrer Hofmauer mit einem Ruck zum Stehen kam. Sie machte keinen Mucks, und im nächsten Augenblick zerfetzte ein gellender, ihr wohlvertrauter Pfiff die Luft. Sally Carrol zwinkerte lächelnd.
»Guuun Moooooogn.«
Unten reckte sich ein Kopf schildkrötenartig unterm Autodach hervor.
»Issa gaanüsch Moooogn.«
»Ach neee, wüüüürklich?!«, rief sie mit gespielter Überraschung. »Na ja, kannst recht ham.«
»Machst ’n grade?«
»Ess ’n gritzegrüünen Fürsich. Wer’ bestümmt glei’ stääärm.«
Clarke verrenkte sich noch eine letzte, kaum mehr menschenmögliche Umdrehung weiter, damit er ihr Gesicht sehen konnte.
»Wasser is warm wie ’n Dampfkessel – haste nich Lust zum Baden?«
»Igitt, Bewegung, ich hasse Bewegung«, seufzte Sally Carrol träge. »Na gut, ich glaub schon.«
Der Riffpirat
I
Diese unglaubliche Geschichte beginnt auf einem traumhaft blauen, wie blauseidene Damenstrümpfe changierenden Meer und unter einem Himmel, so blau wie die Iris von Kinderaugen. Von der westlichen Himmelshälfte her streute die Sonne goldene Plättchen auf die Wasserfläche; und wer ganz genau hinsah, konnte erkennen, wie sie von Wellenkamm zu Wellenkamm hüpften, um sich zu guter Letzt zusammenzuscharen und jenes breite Halsband von eitel Gold zu formen, aus dem am Ende eine halbe Meile voraus ein strahlend schöner Sonnenuntergang werden sollte. Ungefähr auf halbem Wege zwischen der Küste von Florida und jenem goldenen Halsband schwoite, sehr jung und anmutig, eine weiße Dampfyacht um ihren Anker, und achtern auf dem Deck lag unter einer blauweißen Markise ein Mädchen mit flachsblondem Haar auf einem Korbsofa und las Aufruhr der Engel von Anatole France.
Sie mochte vielleicht neunzehn Jahre alt sein, rank und schlank, mit einem ebenso verwöhnten wie verführerischen Mund und lebhaften grauen, vor Neugier leuchtenden Augen. Ihre unbestrumpften, von blauen, lässig von den Zehen herabwippenden
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