Winterträume
dunstverhangenen Augen lächelte der fahle neue Mond hinunter auf das Meer, und während die Küste nach und nach im Dämmerlicht verschwand und dunkle Wolken wie Herbstlaub über den fernen Horizont trieben, ergoss sich plötzlich ein großer Schwall von Mondlicht über die dahineilende Yacht und breitete eine breite, glitzernde Bahn aus lauter ganz, ganz feinen, silbrig schimmernden Ketten vor ihr aus. Ab und zu flackerte ein Streichholz auf, und einer der Männer zündete sich eine Zigarette an, doch außer dem leisen Stampfen der Motoren und dem gleichmäßigen Schlagen der Wellen vorn um den Bug war es auf der Yacht so still wie auf einem Traumschiff, das am Firmament entlangzieht auf seiner Reise zu den Sternen. Von allen Seiten her umwehte sie Geruch der nächtlichen See, der eine endlos große Sehnsucht mit sich trug.
Schließlich brach Carlyle das Schweigen.
»Sie Glückliche«, seufzte er. »Ich wollte immer reich sein – und mir all diese Schönheit kaufen.«
Ardita gähnte.
»Ich würde gerne mit Ihnen tauschen«, sagte sie frei heraus.
»Na klar – so ungefähr für einen Tag. Aber für einen Bubikopf sind Sie ganz schön mutig.«
»Ich mag’s nicht, wenn man mich als Bubikopf bezeichnet.«
»Oh, Pardon.«
»Und was den Mut angeht«, fuhr sie bedächtig fort, »der ist ja meine einzige Rettung. Ich fürchte weder Tod noch Teufel.«
»Hm, ich schon.«
»Um sich zu fürchten«, sagte Ardita, »muss man entweder sehr groß und stark sein – oder aber ein Feigling. Ich bin weder das eine noch das andere.« Sie überlegte einen Moment und sprach dann in eiferndem Ton weiter. »Aber ich will mit Ihnen reden. Was um alles in der Welt haben Sie denn bloß angestellt – und wie haben Sie’s angestellt?«
»Und warum?«, fragte er zynisch. »Sie wollen wohl ein Drehbuch schreiben über mich?«
»Na los schon«, drängte sie. »Lügen Sie mir nur was vor im Mondenschein. Denken Sie sich irgendeine phantastische Geschichte aus.«
Einer von den Schwarzen erschien, knipste die kleine Lichterkette unter der Markise an und begann den Korbtisch fürs Abendessen zu decken. Und während sie Scheiben von kaltem Huhn, Salat, Artischocken und Stachelbeermarmelade aus der reich gefüllten Vorratskammer im Unterdeck aßen, fing Carlyle an zu erzählen, zunächst noch zögernd, doch dann, als er ihr aufrichtiges Interesse spürte, mit wachsendem Eifer. Ardita rührte ihr Essen kaum an; sie war vollauf damit beschäftigt, sein dunkles junges Gesicht zu betrachten – sein hübsches, spöttisches, etwas unscheinbares Gesicht.
Begonnen habe er sein Leben, sagte er, als armer Leute Kind in einer Stadt in Tennessee, so arm, dass er und seine Familie die einzigen Weißen in ihrer Straße waren. Er könne sich nicht erinnern, irgendwelche gleichaltrigen Weißen gekannt zu haben – aber dafür gab es ein Dutzend kleine Negerkinder, die ihm unweigerlich auf Schritt und Tritt nachgelaufen kamen, leidenschaftliche Bewunderer, die er mit seiner lebhaften Phantasie bei der Stange hielt und damit, dass sie alle naselang seinetwegen in der Patsche saßen und er sie jedes Mal wieder herausholte. Und anscheinend hatte diese Verbindung ein ziemlich ungewöhnliches musikalisches Talent in recht eigenartige Bahnen gelenkt.
Da sei so eine Farbige namens Belle Pope Calhoun gewesen, die auf den Festen für die weißen Kinder Klavier spielte – die netten weißen Kinder, die für Curtis Carlyle höchstens ein verächtliches Schniefen übrig hatten. Doch der zerlumpte kleine »Pfui-bah-bah-Weiße« saß immer stundenlang neben ihr am Piano und versuchte, mit dem Kazoo, auf dem die kleinen Jungs so gerne tröten, eine ordentliche Altbegleitung hinzukriegen. Er war noch keine dreizehn, da tingelte er schon, um sich über Wasser zu halten, durch die kleinen Cafés von Nashville und entlockte seiner ramponierten alten Geige einen richtig juckigen Ragtime. Acht Jahre später hatte das Ragtimefieber das ganze Land erfasst, und er tourte mit sechs Schwarzen durch die berühmten Orpheum-Vaudeville-Theater. Mit fünfen davon war er zusammen aufgewachsen, und der sechste war Babe Divine, jener kleine Mulatte, ein Niggerzwerg aus der New Yorker Ecke und früher mal, vor langer Zeit, Arbeiter auf einer Plantage in Bermuda, bis er seinem Herrn ein Stilett mit einer Zwanzig-Zentimeter-Klinge von hinten zwischen die Rippen gejagt hatte. Carlyle hatte noch gar nicht richtig kapiert, was für ein Glückspilz er war, da trat er schon am Broadway
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