Wintzenried: Roman (German Edition)
erklären lässt. Dann kriegst du das Doppelte, sagt sie.
Obwohl er sich kaum in der Lage fühlt, auch nur zwei Schritte zu tun, ist eine Reise nach Genf unvermeidbar, bevor es nach Montpellier geht. Zwar meint Jean-Jacques, für die Erbschaftsgeschichten sei auch danach noch Zeit, doch Mama weigert sich, ihm eine Kutsche zur Verfügung zu stellen, wenn vorher das Geld nicht da ist.
Als er die Rhône entlang nach Genf hineinwandert, sind Getrommel, Geschrei und sogar Schüsse zu hören. Je näher er dem Hafen kommt, desto lauter grölen Horden von Betrunkenen durch die Gassen, schwenken zerfetzte Fahnen, reißen Steine aus dem Pflaster und tanzen auf Fässern, die sie zu Barrikaden gestapelt haben. Das sonst so stille und saubere Genf ist kaum wiederzuerkennen. Jean-Jacques kommt es so vor, als schlügen hier die Kinder auf einmal auf ihre Väter und die Väter auf ihre Kinder ein. Die einen rufen etwas von Freiheit, die anderen nach der Polizei. Jean-Jacques fühlt sich seines Lebens nicht mehr sicher und schwört sich an diesem Tag, niemals im Leben die Stimme gegen Gott und das Gesetz zu erheben.
Zu seinem Erstaunen wohnen im Haus seines Onkels inzwischen fremde Leute. Sie behaupten, der vorherige Besitzer sei nach South Carolina ausgewandert. Zum Beweis zeigen sie ihm einen Brief, in dem der Onkel schreibt, es gebe in Amerika erstaunlich viele Hugenotten und Pelikane. Zum Glück kann Jean-Jacques gleich nebenan unterkommen, wo ein Franzose wohnt. Dieser Herr bewirtet ihn königlich, mit allem, was es an Weinen und Würsten aus dem Burgund gibt. Und es stellt sich heraus, dass er seine Mutter besser kennt als jeder andere. Im Lauf des Abends gewinnt Jean-Jacques immer mehr den Eindruck, dass er sie sogar besser kennt als sein eigener Vater. Wenn er von ihr erzählt, fangen seine Augen an zu leuchten, und manchmal muss er sich dann auch eine Träne abwischen. Während all der sieben Jahre zwischen der Geburt seines älteren Bruders und Jean-Jacques’ eigener hatte dieser Mann sich mit der Mutter getroffen. Sein Vater war damals in Konstantinopel. Was bedeuten könnte, dass dieser Franzose sogar sein eigentlicher Vater ist. Wenn er von Mutters Reizen spricht, weiß Jean-Jacques nicht, ob er ihn lieber anspucken oder ihm um den Hals fallen würde.
Anders als dieser Mann hatte sein Vater nie Tränen in den Augen, wenn von Mama die Rede war. Allenfalls hatte er nur deshalb zu weinen angefangen, weil er für die Kinder nach ihrem Tod selbst sorgen musste und nicht mehr in der Welt herumfahren konnte. Bei dem einen hört sich die Klage nach Trauer an, beim anderen nur nach Gejammer.
Als Jean-Jacques am nächsten Morgen beim Testamentsverweser mit seinem Vater zusammentrifft, wird ihm schwindlig. Er muss sich setzen, man bringt ihm Wasser, fragt ihn, ob man einen Arzt rufen und die Erbangelegenheiten erst später, wenn es ihm wieder gutgeht, regeln soll. Jean-Jacques will die Sache sofort hinter sich bringen, hat aber keine Kraft mehr, seinen Anspruch auf das Erbe seines verschollenen Bruders anzumelden, und überlässt es dem Vater, der verspricht, nichts davon anzurühren.
Beim Verlassen der Stadt rotten sich gerade wieder Randalierende zusammen, die Fässer vor sich herrollen, auf denen sie mit Schaufeln den Rhythmus zu ihren zornigen Liedern schlagen. Durch ein paar Gassen zieht er mit ihnen, fängt wie sie an zu grölen und wirft einen Pflasterstein durch ein Fenster. Von der Schweiz will er nie wieder etwas wissen.
Der Polyp scheint sich während seiner Genfer Reise allerdings wieder verflüchtigt zu haben, doch sicherheitshalber will er die Kur in Montpellier trotzdem antreten. Weil er sich zum Reiten zu schwach fühlt, besorgt Mama ihm nun doch eine Kutsche. Sie muss dafür allerdings sein Erbe anbrechen, das sie so lange verwalten will, bis Jean-Jacques endlich mit Geld umgehen kann. Er müsse ja nicht unbedingt in den ersten Häusern absteigen, ermahnt sie ihn, als er sie ein letztes Mal küsst und der Kutscher zum Aufbruch drängt. Und dann sagt sie noch: Ich will dich auf keinen Fall wiedersehen, bevor du nicht richtig gesund bist.
Abends sitzt Jean-Jacques in Grenoble im Theater. Man gibt ein Stück von Voltaire, in dem edle Inkaprinzen schöne Inkaprinzessinnen lieben, die von hässlichen Christen zur Liebe gezwungen werden, worauf die Inkaprinzen die Christen erschlagen, danach jedoch ihre Taten bereuen und selbst zu Christen werden. Jean-Jacques ist begeistert und möchte auch ein solches Stück
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