Wintzenried: Roman (German Edition)
längst besucht hat. Längst könnte er bei ihnen wohnen. Mit ihnen zusammenleben. Oder wäre mit der Tochter über alle Berge. Mit einem Mädchen, das er nicht kennt, doch wie keine andere begehrt. Manchmal ist er sich fast sicher, dass sie auf ihn wartet. Selbst wenn sie es nicht weiß. Auf ihn und keinen anderen. Als gäbe es ein höheres Schicksal. Für sie alle drei. Als müsste etwas geschehen, wovon nur der Himmel weiß, wie es endet. Immer wenn er an sie denkt, drängt es ihn sofort zu seinen einsamen Verrichtungen. Selbst in der Kutsche oder wenn er im Café sitzt. Es kann dann gar nicht schnell genug gehen. Als wüsste er andernfalls nicht mehr, wohin mit sich. Vor dem Einschlafen fantasiert er sie sowieso ständig herbei und auch sofort wieder nach dem Aufwachen. Manchmal denkt er, diese Tochter müsste sich genauso erregt und getrieben fühlen wie er. Zuweilen fürchtet er ganze Tage lang, nie mehr Ruhe finden zu können, wenn es nicht bald so weit ist und sie beide sich umschlingen.
Auf dem Weg nach Montélimar sucht er einen Doktor auf, den er bittet, ihm alle Beruhigungsmittel der Welt zu verordnen und ihm zu verbieten, den Ort zu verlassen. Drei Monate lang muss Jean-Jacques jetzt Eselsmilch trinken. Danach geht es ihm besser.
Endlich kann er zu Mama zurück.
Sie wird ihn an sich drücken, beide werden sie vor Freude weinen. Er wird ihr sein Erbe schenken und für immer bei ihr bleiben. Vorbei das Verlorensein, vorbei das Streunen, vorbei die Krankheiten.
Zwei Wochen lang sitzt er in der ruckelnden Kutsche und fährt durch den Winter.
Auf der letzten Strecke leuchtet über den Alpen das erste Frühlingslicht. Er könnte jauchzen. Wie noch nie im Leben fühlt er sich gesund.
Mama empfängt ihn kühl. Und sie ist nicht allein. Ein junger Mann, groß und schlank, blondes Haar, ist bei ihr. Auch er kommt vom Genfer See. Sein Name: Wintzenried.
Mama sieht nicht so aus, als wäre sie über seine Rückkehr erfreut. Ihm kommt das Gelächter in den Sinn, als sie mit dem Doktor vor einem halben Jahr in der Küche saß und die beiden beschlossen, ihn wegzuschicken. Als hätte man ihn loswerden wollen.
Wintzenried scheint einer von denen zu sein, die ständig gute Laune verbreiten müssen. Einer von denen, die nicht wissen, was Tiefe ist. Ständig spielt er den Munteren und summt vor sich hin. Oder er pfeift. Trägt unablässig etwas hin und her, Teller, Töpfe, Kerzenständer. Dann wieder rumpelt es in der Küche, und er schreit durchs Haus: Wo sind die Tischtücher? Zwei Augenblicke später steht er mit der Axt im Garten, fängt an, Holz zu hacken, und singt dazu die ganze Zeit. Eine Fröhlichkeit, die das Grauen ist. Hinter der nur Dummheit steckt. Ein Mensch, der nicht weiß, was innere Schönheit ausmacht. Einer, mit dem man keinen einzigen vernünftigen Satz reden kann. Ein Streuner, der nie etwas gelernt hat. Ein Vagabund, der in Mama eine Dumme gefunden hat, die ihn durchfüttert und am Ende sogar noch zu sich ins Bett lässt. Ein Nichtsnutz, der sich wichtigmacht. Man sieht es auf den ersten Blick. Und versteht nicht, dass Mama auf so einen hereinfallen kann.
Warum hast du mir nicht geschrieben?, will Jean-Jacques von ihr wissen. Sie verbittet sich einen solchen Ton. Jean-Jacques hat überhaupt nicht das Gefühl, frech gewesen zu sein.
Abends geht es in der Küche wieder so hoch her wie einst in Annecy. Es wird gesungen, es wird getanzt. Geld scheint auch wieder da zu sein, so maßlos, wie hier aufgetischt und getrunken wird. Mama bekommt ein furchtbares Strahlen in den Augen, wenn Wintzenried in ihrer Nähe ist. Von einem Bergwerk ist die Rede, das die beiden bald betreiben wollen.
Ständig hat Wintzenried ein Lied auf den Lippen, und über den Gartenzaun hinweg plappert er mit jedem, der vorbeikommt, als wollte er Jean-Jacques zeigen, wie beliebt er bei allen ist. Ein Schwätzer, ein Schmeichler, ohne jedes Rückgrat, auf nichts als den eigenen Vorteil bedacht. Mit einem Wort: ein falscher Hund.
Mama sagt zu Jean-Jacques jetzt nicht mehr: mein Kleiner. Aus Zärtlichkeit ist Hohn geworden. An Schlaf ist nachts nicht mehr zu denken. Sie schämt sich nicht einmal, so laut zu stöhnen, dass man es drei Häuser weiter hört. Als wollte sie ihm vorführen, wie es auch sein kann. Mit einem Eindringling, der fast zwanzig Jahre jünger ist als sie. Was heißt, dass Mama sich inzwischen an Kindern vergeht. Perückenmacherei soll er gelernt haben. Ein Frisör. Ohne Adel, ohne Herkunft, ohne alles.
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