Wintzenried: Roman (German Edition)
schreiben. Er muss nach Paris, so schnell wie möglich. Die Kur will er eilends hinter sich bringen.
Für Montpellier hat er mehrere Adressen bei sich, auch die eines irischen Doktors, der für seinen Mittagstisch berühmt ist. Dort gibt es nichts, was es nicht gibt: Fische aller Art, Gemüse in allen Farben, Lammtöpfe, Wildschweinpasteten und dutzenderlei Gebäck, wie er es noch nie gesehen hat. Abends speist man im Gasthaus, jeden Tag in einem anderen. Morgens besichtigt man römische Ruinen oder spielt unter Platanen mit Holzkugeln, die man nach anderen Holzkugeln wirft. Weil Jean-Jacques jedoch die Spielregeln nie ganz versteht, schaut er nach ein paar Tagen bloß noch zu, wettet aber immer mit und ruft Hurra, wenn seine Mannschaft gewinnt.
Krank wirkt keiner von den Kurgästen, die beim irischen Doktor tafeln und sich abends in jenen Tavernen treffen, wo die schönsten Wirtsmädchen bedienen. Der Doktor gibt Jean-Jacques zu verstehen, dass er sich auf einen längeren Aufenthalt einstellen müsse. Zwar sei seine Krankheit nicht tragisch, doch um einen solchen Polypen wieder zum Verschwinden zu bringen, dürfe er sich in den nächsten Monaten keinerlei Aufregungen aussetzen. Er gibt ihm den Rat, möglichst viel Wasser zu trinken, vor allem nach Abenden, an denen viel Wein im Spiel war.
Im Botanischen Garten hört er sich medizinische Vorträge an, die das eine Mal vom Zusammenhang zwischen Rückenmarksbeschwerden und Störungen im Bereich der Liebeskräfte, ein andermal von der Wechselwirkung zwischen Brennnesseln, Juckreiz und Blindheit, ein drittes Mal von solchen kaum zu kurierenden Nervenleiden wie Hysterie, Gliederstarre und Rastlosigkeit handeln. Ruhe vor solchen furchterregenden Gedanken findet Jean-Jacques auf seinen Spaziergängen zum Meer hinüber, wo er sich beim Anblick vorbeiziehender Schiffe nach anderen als nur geistigen Weiten sehnt. Bei so viel dringender Erholung vergisst er ganz, dass er eigentlich nach Paris wollte, um dort ein zweiter Voltaire zu werden. Auf seinen abendlichen Gängen durch die labyrinthischen Gässchen der Stadt malt er sich an märchenhaften Toreingängen, die in Innenhöfe voller Blumen führen, aus, wie er hier schon bald mit einer jener dunklen Schönheiten zusammenleben könnte, die es in Montpellier zuhauf gibt. In Montpellier, denkt er, könnte man glücklich werden.
Als es nach einem Vierteljahr aber auch im Süden kühler zu werden beginnt, wird Jean-Jacques immer weniger das Gefühl los, hier nur ausgenommen zu werden. Er packt seine Sachen, steigt in eine Kutsche, fährt Richtung Mama zurück, schreibt ihr dann aber, bevor es bei Lyon in die Savoyer Berge abgeht, einen Brief, in dem er ihr auseinandersetzt, dass es besser für seine Verfassung wäre, noch einen weiteren Doktor aufzusuchen, bevor er endgültig zu ihr zurückkehre. Montpellier habe er fluchtartig verlassen, weil es dort Tag und Nacht an allen Ecken und Enden nach Fisch stinke und es nirgends auf der Welt schamlosere Frauen gebe. Was er allerdings bräuchte, heißt es im Postskriptum, sei nochmals eine angemessene Summe, um für die Medikamente, den neuen Doktor und eine bescheidene Unterkunft aufkommen zu können.
Mama schickt ihm Geld, doch ohne eine einzige hinzugefügte Zeile. Ihm ist zum Heulen, aber nicht einmal das kann er mehr. Und auch nicht schreien. Und auch nichts mehr essen. Aber er reißt sich zusammen und schreibt an Mama: Hättest Du nicht gesagt, ich dürfe nur vollkommen gesund zu Dir zurückkehren, würde ich mich sogleich zu Dir auf den Weg machen.
Weil wieder keine Antwort von Mama bei ihm eintrifft, klagt er ihr in einem weiteren Brief: Niemand ist so allein auf der Welt wie ich, ein zum Tode Verurteilter, vergessen, verstoßen selbst von seiner Mutter. Doch bald werde ich wieder bei Dir sein, werde Unkraut jäten, die Hecken stutzen und Dir Tag und Nacht dienen.
Diesmal schreibt Mama zurück. Nur einen einzigen Satz: Du brauchst Dich nicht zu beeilen.
Jean-Jacques schwört sich, ein guter Mensch zu werden. Der beste von allen. Ein Vorbild, zu dem man aufschaut. Er will der Reinste von allen sein. Er wird arbeiten und gehorchen, nicht nur zur Freude von Mama, sondern der ganzen Welt.
Mit solchen Gedanken begibt er sich zur nächsten Kur.
Aber auch ein anderer Gedanke will ihn nicht loslassen. Es wäre so einfach gewesen, in Montélimar bei dieser Frau mit ihrer Tochter vorbeizuschauen. Schließlich war er den beiden schon ganz nah. Er versteht nicht, warum er sie nicht
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