Wintzenried: Roman (German Edition)
Sein Vater nichts als ein Hausmeister. Vom hintersten Ende des Genfer Sees.
Woran Jean-Jacques Mama täglich erinnern muss. Denn wenn sie selbst schon nicht sehen will, mit wem sie es hier zu tun hat, muss man ihr wenigstens die Augen öffnen. Muss ihr sagen, dass dieser Dahergelaufene nichts als ein affektierter Perückenmacher ist. Windig, charakterlos, eine weibische Kreatur. Was man allein daran sieht, wie er sich ständig seine Strähnen aus der Stirn pustet oder sie mit großer Geste selbstverliebt zurückstreicht. Ein Angeber, der seine Angeberei hinter einer penetranten Liebedienerei versteckt. Einer, der gnadenlos Mamas Schwächen ausnutzt. Jean-Jacques sagt ihr das immer wieder klipp und klar ins Gesicht. Nur will sie es nie hören.
Wintzenried, bellt sie ihn dann an, bringt an einem halben Tag mehr zuwege als du in deinen ganzen letzten elf Jahren!
So emsig der Neue auch im Garten werkelt, so wenig kennt er die Namen der Kräuter und Blumen. Das Wichtigste, man gibt sich betriebsam. Von Wissen und Weitblick keine Spur. Jean-Jacques kann darüber nur den Kopf schütteln. Er versteht beim besten Willen nicht, dass jemand so wenig darüber nachdenkt, was er eigentlich macht. Und wozu sein Leben gut ist. Eigentlich, denkt Jean-Jacques, kann er einem leidtun. Schlimm genug, dass er seine Fadheit Tag und Nacht mit Geschäftigkeit überspielen muss.
Ich könnte ihm so viel beibringen, erklärt Jean-Jacques Mama eines Tages. Und fügt ganz leise hinzu: Für eine Baronesse gehört sich so etwas eigentlich nicht.
Zum ersten Mal bekommt er von ihr eine Ohrfeige.
Er schlägt ihr vor, an Wintzenrieds Erziehung zu arbeiten. Ihm so viel wie möglich beizubringen. Alles Wissen, was er hat.
Welches Wissen?, fragt Mama ihn.
Eines Morgens richtet Jean-Jacques sich vor Wintzenried auf, schaut ihn fest an und haut ihm eine runter.
Er muss sich bei Mama entschuldigen.
Danach schreibt er an seinen Vater, seine Gesundheit sei ruiniert, nichts habe etwas genützt, keine Kur, keine Diät, rein gar nichts. Er brauche wieder Geld.
Mama muss den Doktor rufen. Er hat wieder Herzrasen, Atemnot und Schwindelanfälle. Er wird sterben, während der andere draußen die Axt schwingt und singt.
III
M it einem neuen Notensystem im Gepäck trifft Jean-Jacques nach einem missvergnüglichen Frühling in Paris ein. Schlichte Zahlen sollen von nun an die Noten ersetzen. Jean-Jacques wundert sich, dass noch nie ein Mensch auf diese Idee gekommen ist. Sie wird die Musikgeschichte umwälzen. Wird ihn nicht nur berühmt, sondern vor allem reich machen. Im Grunde hatte das Konzert in Lausanne auch sein Gutes. Bald wird kein Mensch mehr verstehen können, warum man Töne mit solchen grotesken Zinken und Zeichen wie Fähnchen, Haken, Kringeln und seltsamen Schlüsseln fixieren soll. Alles wird bald so einfach sein, dass jedes Kind ein Menuett vom Blatt spielen kann. So wie es ein Vor und Nach Christus gibt, so wird es in Zukunft auch eine Zeit vor und nach Rousseau geben, zumindest was die Musik angeht.
Mama wird es bitter bereuen, wie sie ihn behandelt hat. Ist der Ruf seines Ruhms erst einmal zu ihr gedrungen, wird sie reumütig nach Paris eilen und ihn anbetteln, bei ihm bleiben zu dürfen. Er wird sich eine Bedenkzeit geben, sie warten lassen, ihre Bußfertigkeit genießen und Bedingungen stellen. Sie wird sich entschuldigen müssen, und dann kann man weitersehen.
Mit Rameaus Harmonielehre auf dem Schreibtisch hatte er sich in den letzten Monaten bei ihr in seinem Zimmer vergraben und nur noch bei den Mahlzeiten blicken lassen. Wenn er sich dann hin und wieder erlaubte, Wintzenried ungeschminkt zu sagen, was man von ihm zu halten hat, musste er den Tisch verlassen.
Keiner hat bei seiner Abreise geweint. Mach mir keine Schande, war das Letzte, was Mama zu ihm sagte.
Vier Wochen später wurde er von jener Familie in Lyon, der er von Mama als Erzieher empfohlen worden war, entlassen. Zum einen wollten die Kinder nie folgen. Er musste sie anschreien und schlagen. Vor allem, wenn er sie beim Onanieren erwischte. Zum anderen war er ein paar Mal vor der Hausherrin niedergekniet, so wie damals in Turin. Als sie ihm prophezeite, er werde bei den Damen einmal Erfolg haben, ließ sie ihn sogar ihre Brüste anfassen und fing an, die Augen zu verdrehen. Am selben Tag musste er die Koffer packen.
Glücklicherweise ging bei diesen Leuten auch der berühmte Abbé Condillac aus und ein, ein Mann, der Voltaire höchstpersönlich kennt und viel vom
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