Wintzenried: Roman (German Edition)
erst in drei Tagen wiederkommen und sich so lange ausruhen, es werde nötig sein, verabschiedet sie ihn.
Drei lange Tage und Nächte könnte er sich dafür schlagen, ausgerechnet in dem Augenblick, da jeder ihn um eine solche Gelegenheit beneidet hätte, sein Glück so ungenutzt gelassen zu haben. Er kann es kaum erwarten, wieder bei ihr zu sein. Voller Glut und voller Kraft. Weil sie ihm gar nicht mehr aus dem Kopf gehen will, ihn aber auch die Angst nicht in Ruhe lässt, es könnte wie beim letzten Mal enden, muss er sich immer wieder sagen: Sie ist nur eine Hure.
Als er zur verabredeten Stunde vor ihrem Haus steht, bringt ein Gondoliere ihm die Nachricht, sie sei nach Florenz abgereist. Das Schlimmste für ihn ist, dass sie ihn jetzt für immer so erbärmlich in Erinnerung behalten wird. Was immer er noch werden und wo auch immer er in seinem Leben noch sein wird, stets wird diese Frau in ihm einen Versager sehen.
Monsieur Montaigu hat inzwischen Post aus Paris bekommen. Eine Kopie von Jean-Jacques’ Brief. Er schreibt zurück: Ich werde ihn noch heute in eine Kutsche setzen. Und fügt hinzu: Dieser Herr ist ein Betrüger, der sein ganzes Geld für affige Kleidung ausgibt und sich, wie mir mehrfach zugetragen wurde, in den Hurenhäusern der Stadt auspeitschen lässt.
Jean-Jacques weigert sich, in die für ihn bereitgestellte Kutsche nach Genua zu steigen. Sie sei, sagt er, für Bedienstete und unter seiner Würde. Daraufhin bekommt er gar keine Kutsche mehr und liegt drei Wochen lang im Bett. Dann geht es zurück nach Paris, über weite Strecken zu Fuß.
V
A m liebsten wäre er wieder nach Genf gegangen, doch als Katholik hätte er dort nicht einmal mehr Straßenkehrer werden und nachts nie schlafen können, weil ihm Mama nicht mehr aus dem Kopf gegangen wäre, die eine knappe Tagesreise nebenan leben würde und in deren Bett vermutlich immer noch Wintzenried liegt. Mit vierundzwanzig Seidenhemden, die er sich von seinen Golddukaten hatte schneidern lassen, geht es deshalb in eines der schäbigen Hotels zurück, die in der Nähe jenes Cafés liegen, wo ihn der Schachweltmeister wahrscheinlich nach wie vor nicht mitspielen lassen wird. Geld muss er jetzt wieder mit Notenkopieren verdienen, und wahrscheinlich ist Madame Dupin mit ihrem Roman auch noch nicht fertig.
Bei Diderot am Tisch sitzen inzwischen meist auch drei Deutsche. Lauter studierte Leute, Söhne von reichen Winzern, Pastoren und Steuereintreibern, die bereits viel in der Welt herumgekommen sind, vor allem, was die Universitätsstädte anbelangt. Der eine namens Grimm hat in den letzten Jahren sein Geld als Vorleser bei einem Herzog verdient, der andere, Klüpfel, einem Grafen Privatpredigten gehalten, der dritte, Holbach, die Millionen seines kinderlosen Onkels geerbt, der an der Pariser Börse spekuliert hatte. Eigentlich kommt Holbach aus der Pfalz und heißt mit Vornamen Dietrich, nennt sich hier jedoch Thiry. Sie alle wollen bei Diderots großem Werk mitmachen. Jeder von ihnen ist davon überzeugt, dass die Zukunft der Wissenschaft und dem Glück gehört und das Ende jener Finsternis nah ist, die seit Jahrtausenden die Erde verdunkelt. Am meisten redet Holbach von diesem Glück, aber auch davon, dass alles in der Welt aus Anziehung und Abstoßung besteht. Darüber hinaus, sagt er, gebe es nichts, weder einen ewigen Sinn noch sonst etwas Fixes und Festes. Das einzig Unabänderliche, dem vom Größten bis ins Kleinste alles unterworfen sei, bestehe im unablässigen Hin und Her aus Anziehung und Abstoßung, Attraktion und Repulsion, Sympathie und Antipathie. Wer das begriffen hat, hat alles begriffen, erklärt Holbach jeden Tag. Wenn nur jeder danach strebt, dass es ihm gutgeht, dann geht es allen gut, betont er genauso oft und zitiert dafür in jedem dritten Satz ein paar alte Griechen und Römer herbei, am liebsten auf Griechisch und Latein, damit es unumstößlich klingt.
Kehrt Jean-Jacques nach seinem morgendlichen Kaffeehausbesuch zum Mittagessen ins Hotel zurück, sitzt er dort mit den anderen Dauergästen um einen runden Tisch herum. Das Essen ist genauso schlicht wie die Putzfrau, von der man es immer serviert bekommt. Sie treibe es mit jedem, hat man ihm gleich am ersten Tag von links und rechts zugeflüstert. Kaum kommt sie zur Küchentür heraus, geht das Gekicher und Getuschel los. Sie alle rufen sie sofort beim Namen, fangen an, sich zu räuspern und anzügliche Bemerkungen zu machen, egal, ob es sich um Abbés, um
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