Wintzenried: Roman (German Edition)
Frauen, die nie zu Hause sind, in Gesellschaft dinieren, gebieterisch den Ton angeben, ihre wahre Natur mit Füßen treten und an aller Verderbnis schuld sind, vor allem an derjenigen der Männer. Ginge es nach mir, würden wir nur in kleinen Gemeinschaften leben, wo das Auge des Nachbarn darüber wacht, dass die finsteren Kunstgriffe des Lasters keinem verborgen bleiben. Wo es kein Theater gibt und das Volk seine Feste im Freien feiert. So wie auf dem Dorf und so wie in Genf, wo nicht Schauspieler, sondern Priester das Sagen haben. Alles andere ist Widernatur und Vergeudungssucht.
An einem stürmischen Herbstabend klopft es noch spät an der Tür. Draußen steht eine triefnasse Frau, deren Kutsche, wie sie sagt, so tief im Schlamm steckt, dass der Kutscher sie nicht mehr herausbringt.
Thérèse hängt ihren Mantel an den Ofen und stellt ihr kalten Braten hin. Jean-Jacques ist der Fremden längst kein Unbekannter mehr. Ihre Schwägerin ist Madame d’Epinay, ihr Geliebter der Dichter Saint-Lambert, den Jean-Jacques noch von früher kennt, aus Salons, wo er regelmäßig seine Verse vortrug. Als Offizier ist er zurzeit rechts des Rheins, in deutschen Landen, stationiert, wo er noch eine Weile bleiben wird. Sophie ist jung, ein ganzer Wald schwarzer Locken fällt an ihr hinab, sie lacht ständig, und verheiratet ist sie auch, doch ihr Gatte scheint noch viel weiter weg als ihr Geliebter zu sein.
Als der Regen aufhört, bringt Jean-Jacques sie zum Schloss hinüber. Beim Abschied presst er sie an sich. Sophie kichert, drückt ihn sanft von sich weg und flüstert: Morgen!
Dass Sophie ausgerechnet bei ihm an die Tür geklopft hat, obwohl sie vor dem Unwetter genauso hätte ins Schloss fliehen können, kann kein Zufall sein, sagt er sich und glaubt sogar, dass die Geschichte mit der Kutsche überhaupt nicht stimmt. Wozu sonst sollte sie überhaupt an einem Tag wie diesem unterwegs sein, wo sich im Schloss keine Menschenseele befindet?
Schlafen kann Jean-Jacques in dieser Nacht nicht, und lange vor Thérèse steht er schon wieder auf. Im ersten Frühlicht hastet er zum Schloss hinüber, das so verlassen daliegt, als lebte dort schon lange keiner mehr. Jean-Jacques steht da, geht auf und ab, steht wieder da, schaut an den Fenstern hinauf und wartet. Wartet den halben Tag und wagt nicht hineinzugehen. So lange, bis Sophie ihm plötzlich während des Mittagsläutens, das vom Dorf herüberweht, von hinten die Augen zuhält. Wie aus dem Nichts ist sie aufgetaucht, obwohl er meinte, die ganze Zeit das Schloss im Blick gehabt zu haben.
Beim Gang durch den Park fällt ihm nichts zu reden ein. Und so kichern wie sie kann er nicht. Sie kichert, wenn ein Vogel über den Weg hüpft, sie kichert, wenn im Gebüsch ein Rascheln zu hören ist, sie kichert sogar, wenn er sie anschaut. Ruhig ist es hier, sagt sie ein paar Mal, oder auch nur: Ach!
Ich könnte sie fragen, was mit diesem Ach gemeint ist, denkt Jean-Jacques, lässt es aber, weil er das Gefühl hat, damit noch hilfloser zu wirken. Er könnte ihr auch sagen, dass die wahre Sprache der Natur keine Worte kennt, würde es nicht in diesem Augenblick nach schierer Verzweiflung klingen. In allem, was er jetzt sagen könnte, denkt er, würde ein unreiner Ton mitschwingen. Ein Ton, von dem er nicht weiß, wie er in ihr widerklingen würde. Wodurch alles bereits vorbei sein könnte. Er könnte auch anfangen, über Saint-Lamberts Gedichte zu reden. Könnte sie rühmen. Ein leises Bedenken äußern. Könnte bei jedem Wort, das sie sagt, auf stumme Weise so sichtbar staunen, als wäre die Welt nur dazu da, von ihr beschenkt zu werden. Und all das nur, um herauszufinden, wie wichtig ihr dieser Mann ist. Andererseits würde er ihn damit zwischen sie beide rücken, ohne zu wissen, ob sie überhaupt an ihn denkt.
Worüber schreiben Sie gerade?, fragt sie auf einmal.
Jean-Jacques sagt: Über Musik.
Worauf sie haucht: Wie schön.
Auf einer Bank greift er nach ihrer Hand. Was sie gewähren lässt.
Ich muss heute wieder nach Paris, sagt sie.
Das dürfen Sie nicht, befiehlt er ihr so brüsk, dass ihn seine eigene Entschiedenheit erschreckt.
Für Thérèse ist es unerträglich. Egal was sie macht, er mault an allem herum oder redet kein Wort mehr mit ihr oder schreit sie an, als sei es unerhört, dass sie ihm überhaupt unter die Augen zu treten wagt. Dann wieder überfällt ihn eine so grundlose Munterkeit, dass sie nicht weiß, ob sein Missmut nicht sogar angenehmer ist. Manchmal
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