Wintzenried: Roman (German Edition)
zurückzuziehen.
Jean-Jacques hat inzwischen im Stillen beschlossen, vergessen zu wollen, was Hume im Schlaf gesagt hat.
Am ersten Londoner Abend geht Hume mit Jean-Jacques in drei Tavernen hintereinander, bestellt jedes Mal einen Braten und einen Krug Wein dazu und hat danach immer noch Appetit. Auf seinem schottischen Schloss, erzählt er ihm, bilde nicht die Bibliothek, sondern die Küche den Mittelpunkt. Den Rest seiner Tage werde er nur noch mit Kochen und Essen verbringen, das seien die schönsten aller Wissenschaften.
Wie man als Philosoph ein Schloss besitzen kann, ohne wie Voltaire in tausend Geldgeschäfte verwickelt zu sein, ist Jean-Jacques ebenso unerklärlich wie der Wunsch eines Mannes, sich im besten Alter zur Ruhe setzen und nur noch fressen zu wollen. Dabei hat Hume lediglich ein paar Schriften über die Labyrinthe des menschlichen Verstandes veröffentlicht, an deren Ende die wenig hilfreiche Einsicht steht, dass wir nichts von dem, was wir zu wissen meinen, wirklich wissen können. Jean-Jacques hat diese Schriften zwar nicht gelesen, schließlich sind sie auch nicht ins Französische übersetzt, doch Humes ständiger Hinweis darauf, dass unsere Vorstellungen nur Vorstellungen sind, bestätigt ihm, was er darüber gehört hat.
Humes Behauptung, dass die Vorstellung von einer wahren Natur auch nur eine Vorstellung ist, wird er erst widersprechen, wenn sein Englisch besser ist, nimmt Jean-Jacques sich vor. Im Grunde hat er überhaupt keine Lust mehr dazu, sich auf solche Sophistereien einzulassen. Wer die Wahrheit kennt, braucht sich davon nicht irremachen zu lassen. Ein Glück, dass Hume so gutmütig ist und man ihm seinen gefühllosen Verstand deshalb leichter verzeihen kann.
Wieder schickt Hume einen Brief nach Paris, in dem steht: Jean-Jacques ist der liebenswerteste Mensch, den es gibt, ich liebe ihn mit jedem Tag mehr.
Madame de Boufflers liest den Brief vor versammelter Runde im Hause Holbach vor. Worauf Holbach bemerkt: Noch kennt er ihn nicht.
David Garrick, der berühmteste Schauspieler der Welt, lädt Jean-Jacques zu einer Gala ein, die er ihm zu Ehren gibt. Zuerst sagt Jean-Jacques ab. Dann sagt er wieder zu. Sagt ab und zu, fünfmal hin und her, bis die endgültige Zusage erfolgt.
Schließlich sitzt er neben Hume genau in der Mitte des Zuschauerraums in seinem Kaftan und mit Pelzmütze, die er auch im Theater nicht abnimmt.
Zuerst wird eine Tragödie gegeben, danach eine Komödie. Bei der Tragödie versteht Jean-Jacques kein einziges Wort und heult. Bei der Komödie versteht er noch weniger, weil die Schauspieler dabei noch schneller reden, doch er lacht immer laut mit, wenn alle lachen. Hume schaut ständig zur Königsloge hinauf. Der König und seine Frau schauen so gut wie nie auf die Bühne, sondern starren fast nur zu Humes Gast hinab, der in seinem Rupfensack wie ein afghanischer Bettler aussieht, der sich mitten im Theater vor einem Schneesturm schützen zu müssen meint. Dass Jean-Jacques mit seiner Mütze den Zuschauern hinter ihm die Sicht versperrt, ist nicht schlimm, denn David Garrick kann sich die Seele aus dem Leib schreien und so viele Grimassen schneiden, wie er nur will, die Hauptrolle spielt an diesem Abend dieser Flüchtling aus Frankreich, den selbst in der Schweiz daheim keiner mehr haben will.
Kaum dass die Vorstellung zu Ende ist, will Jean-Jacques unverzüglich nach Hause, ohne sich noch bei David Garrick zu bedanken oder dem König die Hand zu schütteln. Hume versucht sein Entsetzen zu verbergen, beginnt jedoch um seinen guten Ruf zu bangen, wenn er es nicht schafft, seinen undankbaren Gast wenigstens noch ein halbes Stündchen hierzubehalten. Doch so stur wie Jean-Jacques, halb dem Heulen, halb dem Schreien nah, darauf beharrt, auf der Stelle verschwinden zu wollen, wagt Hume ihm aus reiner Angst, sonst noch weit schlimmeres Aufsehen zu erregen, nicht mehr zu widersprechen. Links und rechts entschuldigt er sich und lässt überall den untertänigsten Dank von Jean-Jacques ausrichten, froh darüber, dass sein Gast nicht versteht, was er den zahllosen Leuten, die sie beide umringen, zuflüstert. Von der Reise erschöpft und schwer krank, erklärt er tausendmal, müsse Monsieur Rousseau sich leider sofort nach Hause begeben, er habe diesen Abend über alles genossen und könne es kaum erwarten, bald wieder hier im Theater zu sein.
Auch am dritten Tag schickt Hume wieder einen Brief nach Paris. Sein Gast sei nach wie vor der liebenswerteste Mensch
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