Wintzenried: Roman (German Edition)
Wirtsstube hinab, wo er nochmals eine Flasche Burgunder kippt. Als er um Mitternacht die Treppe hoch schleicht, steht sie in seiner Tür, winkt ihn herein und verlangt, dass er endlich zu Ende bringt, was er vor zwei Stunden angefangen hat.
Doch es geht nichts mehr, so sehr er sich auch bemüht. Thérèse verhöhnt ihn nur. Er will schlafen, nichts als schlafen. Die Nacht wird für ihn zu einer einzigen Tortur. Kaum macht er die Augen zu, zerrt sie wieder an ihm herum. Er müsse ihr alles beichten, befiehlt sie ihm. Er weiß nicht, was alles ist. Was die Sache nicht besser macht. Es dauert bis in den Morgen, so lange, bis er sich übergibt. Als er zwei Stunden später geweckt wird, weil es mit der Kutsche weitergeht, ist er am ganzen Leib mit roten und blauen Flecken übersät.
Mit Voltaire hat er über die Wahrheit der christlichen Religion diskutiert, auf Korsika mit Freiheitskämpfern zu tun gehabt, in Siena mit der Gattin eines berühmten Volkstribunen namens Piccolomini eine Nacht verbracht, sich in Rom von einem Maler verewigen lassen, sich danach die Malaria geholt, in Paris vom Tod seiner Mutter erfahren, was jedoch im Vergleich mit dieser Fahrt von Paris nach London alles rein gar nichts war. Bei der Ankunft übergibt er die Gattin des berühmten Philosophen sofort an David Hume und eilt davon, mit besten Grüßen an Jean-Jacques.
Hume schrieb schon vor deren Reise ein wenig besorgt an Madame de Boufflers: Ich fürchte, dass etwas geschieht, was die Ehre unseres Freundes beschädigen könnte.
Holbach hat inzwischen auch einen Brief von David Garrick bekommen, in dem der berühmte Schauspieler seine Verwunderung darüber zum Ausdruck bringt, dass man diesem Mann zu Ehren eigens eine Gala veranstaltet, für die er sich dann dadurch bedankt, dass er in London mit niemandem mehr etwas zu tun haben will. Auch der König sei darüber erstaunt.
Holbach schreibt zurück: Mich wundert nichts.
Garrick schreibt ihm wiederum, er könne trotzdem nicht glauben, dass Jean-Jacques ein hundsgemeiner Lügner, ein undankbares Schwein, ein affektierter Affe und philosophischer Scharlatan sei, wie in Paris behauptet werde.
Holbach erklärt ihm in einem weiteren Brief, dass Grimm, über den Jean-Jacques nur das Schlimmste rede, seit Jahren seine Schwiegermutter unterstütze, da dieser Mensch nicht einmal in der Lage sei, für seinen eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Man sollte ihn, schließt Holbach seinen Brief, bei den Bären in den Bergen von Wales aussetzen, falls es dort noch Bären gibt.
Seit Thérèse da ist, will Jean-Jacques keinen Tag länger in London bleiben. Alles spricht dagegen. London ist genau wie Paris. Der gleiche Krach, der gleiche Dreck, das gleiche Gewimmel und Gewusel. Nichts als Lärm und Gestank. Jede Stadt, erklärt Jean-Jacques Hume, ist eine Kloake. Städte stinken in jeder Hinsicht.
Und deshalb will er aufs Land hinaus. Und zwar sofort. Was Hume nicht begreifen kann. Er hat keine Ahnung, was man in der Natur mit sich anfangen soll. Mit einem Leben ohne Geist und ohne tausend Tavernen. Bäume und Bäche erzählen ihm nichts, und reden kann man mit ihnen schon zweimal nicht. Von den Leuten, die auf dem Land wohnen, ganz zu schweigen, so nett sie auch sein mögen. In London dagegen hätte Jean-Jacques die beste Gesellschaft um sich herum. Könnte jederzeit ins Theater. Nichts würde ihm fehlen. So redet Hume auf Jean-Jacques immer wieder ein.
Doch was will man machen? Der Gast ist stur. Oft schweigt er nur. Wirkt wie aufgelöst. Und störrisch. Und wenn er etwas sagt, hat man das Gefühl, dass es ein Vorwurf ist. Ein Vorwurf und Hilferuf zugleich. Nur dass er sich nicht helfen lassen will. Zumindest nicht, wenn man ihm Vorschläge macht, die nicht seine eigenen sind. Man hätte es sich schon auf der Fahrt hierher denken können, spätestens auf dem Schiff, wo er zwölf Stunden lang den Elementen trotzte, als wollte er sehen, wer länger durchhält.
Doch Jean-Jacques weiß, warum er weg will. Aber er kann Hume nicht alles sagen. Allein dass in Humes Haus ein Sohn von Doktor Tronchin, dem Freund Voltaires, wohnt, kann kein Zufall sein, ganz im Gegenteil. Jean-Jacques ist überzeugt, dass er ein Spitzel ist.
Und warum hat Hume, der von Jean-Jacques bislang noch kein einziges Mal um einen einzigen Sou angebettelt worden ist, Thérèse unter dem Siegel der Verschwiegenheit gefragt, ob Geld vorhanden sei? Und warum bietet Hume ihm ständig an, seine Briefe zur Post zu bringen? Und warum steht in
Weitere Kostenlose Bücher