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Wintzenried: Roman (German Edition)

Wintzenried: Roman (German Edition)

Titel: Wintzenried: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Ott
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einer Londoner Zeitung, die ihn willkommen heißt, er sei der Sohn eines Musikalienhändlers? Warum diese Verleumdung? Und warum protestiert Hume nicht sofort dagegen und veröffentlicht eine Richtigstellung? Jean-Jacques selbst kann schließlich nichts unternehmen, ihm fehlt im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache.
    Nicht weniger lästig sind die ständigen Einladungen. Alle wissen, dass er hier ist. Jean-Jacques wäre es lieber, es wüsste keiner. Auch Madame Levasseur wird ausdrücklich aufgefordert, überallhin mitzukommen. Dabei versteht Thérèse hier noch weniger als er. Sie würde nur herumsitzen, nicken oder dumm umherstieren und ihn ständig drängen, endlich aufzubrechen. Hume, dessen Französisch nicht das beste ist, müsste Tag und Nacht den Dolmetscher spielen. In Paris hatten sich alle an Thérèse gewöhnt, auch solche, die sie nicht mochten.
    Er bettelt Hume an, allen zu erzählen, sie beide seien schwer krank.
    Erneut schreibt Hume einen Brief nach Paris. Es sei seltsam, dass er kein Geld annehme, obwohl er offenbar keines besitze. Mit aller diplomatischen Vorsicht fragt er Madame de Boufflers, ob sein Gast vielleicht nur den Mittellosen spiele und es im Hintergrund ein Vermögen gebe. Und was es mit diesem armenischen Kaftan auf sich habe. Und was mit dieser Unduldsamkeit. Er wolle sofort aufs Land und keine Stunde länger in London bleiben. Was er, Hume, beim besten Willen nicht begreifen könne. Aufs Land hinaus, wo man sich selbst als Einheimischer verloren vorkomme.
    Immer öfter bekommt Jean-Jacques Wutanfälle. Aus heiterem Himmel. Man weiß nicht, warum. Mal schreit er die Köchin an, mal das Kammermädchen, mal den Gemüsehändler. Manchmal schreit er auch Hume an.
    Um sich auszusprechen, sitzen die beiden sich eines Abends in mächtigen Sesseln vor einem Kamin gegenüber, in dem das vor sich hin glimmende Holz knistert. Sie sitzen da und schauen sich manchmal an, mal gleichzeitig, mal der eine den anderen. Wie nur anfangen?, scheint sich jeder von ihnen zu fragen. Nach einer Weile starren die beiden nur noch ins Feuer. Bis Hume dann wieder Jean-Jacques anschaut und Jean-Jacques auch ihn wieder anblickt. Wie man anfangen könnte, scheint immer noch keiner zu wissen. Nur hat Jean-Jacques zunehmend den Eindruck, dass Hume im Grunde gar nicht mit ihm reden, sondern ihn mit seinem Blick nur verunsichern will. Was bedeutet, dass er ihn genauso anstarren muss, wie Hume ihn anstarrt. Was ihm aber nicht gelingen will. Es ist, als fixierte Hume ihn so seelen- und gnadenlos, dass sein Blick überhaupt nichts Menschliches mehr an sich hat. Und das Erschreckendste ist, dass er dabei sogar kein einziges Mal blinzeln muss. Er starrt, als hätten seine Augen überhaupt keine Lider. Hume, den alle den guten David nennen, ist in Wirklichkeit ein Monster. Woher bloß, fragt Jean-Jacques sich, nimmt ein Mensch solche Augen? Woher diesen Blick, der in seiner mörderischen Ruhe etwas immer Höhnischeres bekommt? Der richtiggehend zu brennen anfängt und dem kein Mensch standhalten kann? Der gute Hume, dem niemand etwas Böses zutraut und der wie ein dummer Bauer aussieht, trägt in Wirklichkeit den Teufel in sich.
    Nach einer Stunde kann Jean-Jacques nicht mehr. Er stürzt ins Zimmer nebenan und fängt an zu heulen. Hume, der sein fürchterliches Schluchzen hören kann, bleibt seelenruhig in seinem Sessel vor dem glimmenden Feuer sitzen. Selbst als das Schluchzen immer schlimmer wird, sieht Hume nicht nach ihm, weshalb Jean-Jacques mit aufgelöstem Gesicht auf einmal wieder zu ihm hereinrennt, ihn küsst und an sich drückt, so sehr, dass der arme David gar nicht weiß, was er machen soll, und ihm nur ein paar Mal hilflos auf die Schulter klopft, Jean-Jacques ihn aber deshalb noch lange nicht aus seiner Umklammerung befreit, sondern immer schwerer auf ihm liegt, auf diesem dicken Leib, der in seiner erschreckenden Fettheit fast etwas Mütterliches besitzt.
    Verzeih mir, verzeih mir, es tut mir leid, dass ich dich so verdächtigt habe, fleht Jean-Jacques ihn an. Ich liebe dich, du bist mein einziger Freund!
    Der gute David weiß immer weniger, was er machen soll, und klopft Jean-Jacques deshalb noch ein paar Mal auf die Schulter.
    Jean-Jacques kann nicht zu weinen aufhören und krallt seine Finger in Humes schwartiges Fleisch.
    Weil der so Bedrängte aber immer noch nichts sagt, lässt Jean-Jacques mit einem von Tränen aufgelösten Gesicht schließlich von ihm ab und verabschiedet sich. Er ist sich jetzt

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