Wintzenried: Roman (German Edition)
sicher, dass sein Argwohn gegenüber diesem Mann mehr als berechtigt ist.
Hat er ihm nicht erst gestern über die Schulter geschaut, während Jean-Jacques einen Brief schrieb? Und wollte er nicht diesen Brief eigenhändig zur Post bringen? Um das Siegel zu erbrechen und ihn lesen zu können! Hat er ihn nicht seit ihrer ersten Begegnung in Paris seltsam angeschaut, mit einem kaum merklichen und doch spürbaren Spott in den Augen? Mit jeder Stunde mehr häufen sich die Beweise. Hume, so steht fest, steckt mit der Holbach-Clique unter einer Decke.
Jean-Jacques verzeiht sich nicht, dass er immer so gutmütig ist.
Hume schreibt wieder einen Brief nach Paris. Man kann mit dieser Frau nirgends hingehen, heißt es da. Mit Jean-Jacques allein wäre alles viel einfacher. Allenfalls auffällig sei an ihm der Hang, den besten Freunden die schlimmsten Absichten zu unterstellen. Doch ansonsten wirke er durchaus ausgeglichen. Wäre nur diese Frau nicht, mit der er sich selbst und allen anderen das Leben schwermache. Ein Wesen, mit dem man kein Wort reden könne, außer wenn man den Dummen spiele.
Was mich angeht, schließt Hume den Brief, so verbringe ich mein Leben in seiner Gesellschaft, ohne dass auch nur das geringste Wölkchen zwischen uns am Himmel erscheint.
Weil Jean-Jacques nach wie vor kaum einen richtigen englischen Satz zustande bringt, auf fremde Hilfe aber trotzdem nicht mehr angewiesen sein will, bringt Hume ihn bei einem französischen Gärtner unter. Dort ist ihm jedoch das Zimmer zu eng. Im Übrigen hat Jean-Jacques etwas anderes verlangt, nämlich eine Bleibe auf dem Land. Ein Bauernhaus in Wales ist im Gespräch, eine Idee, die Jean-Jacques sofort gefällt, nur dass das Haus im Augenblick noch nicht frei ist. In einem anderen Fall scheitert es daran, dass dort die Bediensteten keinen Zutritt zur Tafel der Herrschaft haben, was bedeuten würde, dass Thérèse, die als Haushälterin gilt, mit den Knechten zu Tisch sitzen müsste. Auf die Isle of Wight wiederum will Jean-Jacques nicht, weil es ihm dort zu viele Menschen und zu wenige Bäume gibt.
Man schlägt ihm etwas vor, das nach Gallien klingt. Gälisch, heißt es, würden die Leute dort reden. Thérèse freut sich schon. Hume sagt: Dort versteht man kein Wort, nicht einmal als Engländer. Jean-Jacques will wissen, ob man auch eine Insel für sich allein haben kann.
Alle wollen es ihm recht machen, und alle machen alles falsch. Die einen wollen ihn dahin, die andern dorthin verschicken. Wenn ich selbst aber eine Entscheidung treffe, schreibt er an DuPeyrou, verschwören sie sich alle wieder gegen mich und wollen, dass ich genau das mache, was ich nicht will.
Schließlich zieht er bei einem Lebensmittelhändler ein, direkt an der Themse.
Weil Hume sich nach wie vor fragt, wovon Jean-Jacques eigentlich lebt, versucht er ihm beim König eine Leibrente zu verschaffen. Als Jean-Jacques davon erfährt, empört sich in ihm alles, wie damals, als Holbach meinte, ihm fünfzig Flaschen Bordeaux spendieren zu müssen. Kaum ist er durchs Meer vor den alten Verfolgern geschützt, geht es schon wieder los mit solchen Almosen, hinter denen sich ganz andere Dinge als nur wohltätige Absichten verbergen.
Warum denn will Hume ihn mit aller Gewalt davon abhalten, sich in der Ödnis zu verkriechen, wie er es nennt? Doch nur, um umstandslos sein böses Werk fortsetzen zu können. Immer mehr bricht hinter seinem schwammigen Gesicht die teuflische Fratze hervor. Bei anderen lässt sie sich viel leichter erkennen. Mit Hume dagegen möchte man so lange, bis man es besser weiß, schon deshalb Mitleid haben, weil er wie ein groteskes Schwein aussieht, das sich als Mensch kostümiert.
Jean-Jacques will endlich an einen Ort, wo ihn keiner mehr kennt, wo er mit keinem mehr reden muss und wo es meilenweit kein Theater gibt. Am besten an einen Ort, wo man auf den Klippen nach Frankreich hinüberblickt, damit einem die Sehnsucht bleibt und auch die Abscheu. Täglich den Feind im Blick.
Nach vier langen Wochen, die nicht vergehen wollten, kann Hume den beiden verkünden: Es ist so weit. Im Abseits eines Städtchens namens Wootton auf halber Strecke nach Schottland besitzt ein gewisser Mister Davenport ein Anwesen, in dem genügend Platz für sie ist.
Am Abend vor dem Aufbruch kommt man nochmals mit Hume zusammen, der den beiden als Erstes mitteilt, dass es sich bei der morgigen Postkutsche zufällig um eine Leerfahrt handelt und deshalb keinerlei Reisekosten anfallen.
Jean-Jacques
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