Wintzenried: Roman (German Edition)
Falle. Wenn die ganze Welt hinter ihm her ist, kann nicht ausgerechnet Dover ihm ein Schlupfloch bieten. Ganze Kohorten werden ihn dort erwarten.
Also bleibt nur die Weiterfahrt landeinwärts, wo ihn keiner erwartet. Da die gesamte englische Küste bis Schottland hinauf und von dort auf der anderen Seite wieder in den Süden hinab überwacht wird, kann er nur hoffen, dass ihn abseits aller Hauptstraßen mitten auf dem Land noch niemand sucht und in den winzigen Dörfern dort noch niemand kennt.
An DuPeyrou, der ihm in seinem letzten Brief versprochen hat, es sich noch einmal zu überlegen, ob er etwas von Voltaire veröffentlicht, schreibt Jean-Jacques in diesen Tagen: Meine Zeit wird kommen. Noch lässt Gott alle Qualen zu, die ein Mensch leiden kann. Ich muss mich in seinen Willen ergeben. Die Vorsehung ist unerforschlich, doch die Verschwörung gegen mich ist Teil von ihr. Auch Jesus musste sterben, weil er sein nichtswürdiges Volk erleuchten und zur Tugend führen wollte.
Als die beiden nach zwei Wochen auf allerlei Umwegen Dover erreichen, steht dort in der Zeitung, der Philosoph Rousseau habe England wieder verlassen. Jean-Jacques ist überzeugt davon, dass nur Davenport diese Nachricht in die Welt gesetzt haben kann. Sofort lässt er ihm einen Brief zukommen, in dem es heißt: Eine Freundschaft bringt Verpflichtungen mit sich, auch wenn sie nie zustande gekommen ist.
Doch er muss entdecken, dass andere Zeitungen noch weit Schlimmeres behaupten. Er habe die Gastfreundschaft seines Beschützers David Hume aufs undankbarste missbraucht und alle, die ihm Gutes taten und Gutes tun wollten, mit übler Nachrede beleidigt.
Jean-Jacques geht zur Polizei und erklärt, man wolle ihn ermorden. Allerdings er sei zu berühmt, als dass man sein Verschwinden vertuschen könne. Lasse man ihn laufen, so verspricht er der Polizei, werde er seine Memoiren nicht veröffentlichen.
Die Polizisten begreifen nicht, wovon der Mann spricht. Als sie ihn sprachlos anstarren, weiß er, dass auch sie zur Verschwörung gehören.
In Dover kann das Schiff wegen eines Sturms nicht auslaufen. Jean-Jacques will in einer Kajüte warten. Er glaubt, sich dort am besten verstecken zu können. Doch es wird ihm verboten. Er geht in den nächstbesten Gasthof, bekommt einen Petersiliensalat vorgesetzt, hält ihn für Gift, stürzt wieder hinaus, rennt einen Hügel hinauf, breitet im peitschenden Regen die Arme aus und predigt übers Meer hinweg. Man sieht ihn fuchteln und brüllen, ohne ein Wort zu verstehen.
Hume bekommt die Nachricht, Jean-Jacques sei wahnsinnig geworden.
Er schreibt nach Paris: Wahnsinnig ist Jean-Jacques gewiss nicht. Er konnte nur nicht ertragen, dass man ihn in England weder verfolgt noch ihm zu Füßen liegt. Deshalb hat er das Land wieder verlassen. Er musste sich diesen Unfug ausdenken, weil er keinen anderen Vorwand hatte. Er ist schrullig, überspannt, arglistig, eitel und rastlos. Ein kleiner Irrsinn mag mitspielen, gekoppelt mit Redegewandtheit, Erfindungsgabe, Verlogenheit und Undankbarkeit. Im Übrigen ist er erstaunlich unbelesen. Er kennt fast nichts. Sein Wissen ist erbärmlich. Kein Wunder, dass er auf dem Land leben und mit keinem etwas zu tun haben will. Er behauptet dies, behauptet jenes, hat eine blühende Fantasie, fragt sich aber nie, mit welchem Recht man dies und jenes einfach behaupten kann. Sein Gefühl genügt ihm.
XI
A uf der Überfahrt von Dover nach Calais bastelt Jean-Jacques wieder an einem neuen Namen herum. Er beschließt, dass Thérèse ab jetzt seine Schwester ist und sie beide Renou heißen.
Als Unbekannte werden sie von nun an in der Picardie auf Schloss Trie wohnen, das Prinz Conti gehört, der ihm rät, keine einzige Zeile mehr zu schreiben, sich nirgends mehr zu zeigen, sich so wie alle Leute zu kleiden und den Kaftan samt Kopfbedeckung für immer verschwinden zu lassen. Nun könne er sich endlich, so wie er es immer schon gewollt habe, ganz und gar der Natur widmen, lässt der Prinz grüßen. Da Jean-Jacques nach Paris und in die Schweiz nicht mehr zurückkann, ist er auf seine Hilfe angewiesen und will deshalb vergessen, dass Madame de Boufflers und Prinz Conti vor noch nicht allzu langer Zeit in seinen Schränken gewühlt haben.
Eigentlich wäre Jean-Jacques lieber nach Zypern oder Griechenland oder selbst nach Amerika gegangen, wohin Europa seine Huren und Verbrecher verbannt. Doch Madame de Boufflers hat, bevor er überhaupt einen Gedanken fassen konnte, alles arrangiert und
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