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Wir beide nahmen die Muschel

Wir beide nahmen die Muschel

Titel: Wir beide nahmen die Muschel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Hendrix
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viele Stunden Schlaf. Wir hatten uns gestern Abend über unser heutiges Ziel
im Pilgerführer klug gemacht. Die Stadt Logroño ist mit seinen 148.000
Einwohnern die Hauptstadt der Weinregion La Rioja. Neben dem Handel mit Wein
und anderen Agrarprodukten lebt die Stadt von der Metall- und Textilindustrie.
Mal sehen, wie uns die Stadt auf der Durchreise gefällt. Kurz nach unserem
Weggang fing es an zu tröpfeln. Im Schnelldurchgang haben wir den Anorak
angezogen und den Rucksack regensicher gemacht. Nach wenigen Augenblicken hörte
es auf. In der Nacht muss es kräftig geregnet haben, die tonhaltigen Wege,
vorbei an vielen Schrebergärten, waren sehr aufgeweicht und er klebte so schön
an unseren Schuhsohlen. Da der weitere Weg aus losem Geröll bestand haben wir
den klebrigen Ton zum größten Teil wieder abgelaufen. Wir durchschritten ein
Industriegelände. An einem Fabrikrolltor machten wir unsere Frühstückspause.
Gerne hätte ich dazu einen Schluck Rotwein getrunken, aber wir hatten wie jeden
Tag nur Wasser mit. Unser Weg hatte wir so gut wie keine Steigung, fast alles
leicht abschüssig. Kurz vor Logroño trafen wir auf das Haus von María
Mediavilla. Sie ist eine Stemplerin. Jeder Pilger kennt sie von seinen
Vorbereitungen zur Wallfahrt. Diese Aufgabe hat sie von ihrer Mutter
übernommen. Sie erzählt viel über ihre Mutter. Vor Jahrzehnten war ein Priester
zu ihr gekommen und bat sie um Hilfe. Die Kirche wollte erfassen, wie viele
Jakobuspilger jährlich nach Logroño kamen. Immer wenn sie Zeit hätte, sollte
sie die Pilger zählen, denn hier oben, 2,5 km vor der Stadt war alles viel
übersichtlicher. Da sie nicht lesen und schreiben konnte legte sie kleine
Steine in eine Schale auf dem Tisch, für jeden Pilger einen. Am Ende des Tages
zählte ihre Tochter María die Steine und trug die Anzahl in ein Buch ein.
Zwanzig Jahre saß Felisa Rodriguez Medel vor ihrem Haus und bot dem Menschen
Wasser, Feigen und ein schattiges Plätzchen an. Als ihre Mutter starb, erbte
María Mediavilla ihren Stempel. Er war das Geschenk eines Pilgers aus Madrid.
»Felisia, Higos, Agua y Amor« steht darauf. Felisa (der Name von Marias
Mutter), Feigen, Wasser und Liebe. Kann es einen schöneren Stempel geben? Maria
ist heute schon 75 Jahre alt. Sie selber ist die Strecke nach Santiago noch nie
gelaufen. »Ich werde es auch nicht mehr«, sagte sie, »aber ich gehe den Weg
jeden Tag aufs Neue, durch die Pilger und ihren Erzählungen.« Jeder darf sich
bei ihr ausruhen. Jedem bietet sie Kaffee und Brot an. Die meisten bleiben nur
kurz, bitten um einen Stempel und legen eine kleine Spende in die Jakobsmuschel
auf dem Tisch. Andere gehen wortlos vorüber, grüßen nicht einmal. Andere
bleiben eine ganze Stunde. Manche setzen sich auf eine der Bänke in den
Schatten und beginnen zu weinen. Dann setzt sie sich zu ihnen und hört sich
ihre Probleme an, wenn sie von Krankheiten und Schwierigkeiten in ihrer Familie
erzählen. »Oft weine ich dann mit ihnen.« Viele bedanken sich mit einem Eintrag
in ihrem Gästebuch. Dort kann man dann lesen »Ein Engel am Wegesrand«, »Kurz
vor dem Lärm der Stadt eine Oase der Ruhe«, »Danke für den Kaffee.« Auch wir
ließen unsere Pilgerpässe von ihr abstempeln. Ich bat sie, in ihrem Stempel
noch ihren Namen einzutragen, was sie sehr gerne tat. Als sie hörte, dass wir
aus Deutschland kamen, strahlten ihre Augen und sie erzählte mir von ihrem
Bruder, welcher in Minden wohnte. Als Dank für ihren Stempel bekam ihr Hund von
mir ein Leckerchen. Langweilig wird es ihr bei dieser Aufgabe bestimmt nicht.
Denn sie ist längst dort angekommen, wo viele noch hinwollen, bei sich selbst!
Für mich war es sehr schön, Maria eine sehr einfache Frau zu erleben. Beachtenswert
war der Eintritt in diese Stadt. Am Rande war ein sehr großer Friedhof mit
einem herrlichen alten Baumbestand. Umgeben war er mit einer sehr alten hohen
Mauer. Sofort im Eingangsbereich war ein Krematorium. Die Geräusche der
Brennöfen hörten wir schon weit vorher. Alles sehr Umweltbewusst mit einer
großer Filteranlage und Edelstahlschornsteinen. Man sah die Hitzewellen darüber
aufsteigen. An der Außenwand stand ein Leichenwagen. Davor der Fahrer und ein
Pater. Beim Vorbeigehen setzten die Brenner aus. Gerade angekommen und schon
eingeäschert, so ist das Leben. Ich frage mich, ob es sich lohnt, die kurze
Zeit des Lebens, welche wir auf der Erde verweilen, uns gegenseitig mit
Streitigkeiten schwer zu machen? Wäre es nicht besser sich

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