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Wir Ertrunkenen

Wir Ertrunkenen

Titel: Wir Ertrunkenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carsten Jensen
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fragte ich trotzig.
    «Nicht so aufsässig, mein Junge. Weil du viel zu klug bist, um deine Tage auf einer menschenleeren Insel zu beenden.»
    «Wenn es eine menschenleere Insel ist, was wollen wir dann da?»
    «Dasselbe, was ich immer mache, wenn ich irgendwo hinkomme: handeln.»
    «Und mit wem, wenn dort niemand lebt?»
    «Eine gute Frage, mein Junge, tiefergehend, als du es selbst weißt. Ja, mit wem wohl. Diese Frage kann ich nur mit einer Gegenfrage beantworten. Was ist ein Mensch? Ja, was ist das?»
    Er sah mich direkt an. «Kannst du es mir beantworten?»

    Jack Lewis lachte auf eine Weise, die signalisierte, dass er an meiner Antwort kein Interesse hatte; unsere Unterhaltung war damit beendet.

    Zwei Tage später entdeckten wir die erste Möwe seit drei Wochen. Von Deck aus konnten wir kein Land sehen. Ich holte die Seekarte. Es war keine Insel in der Nähe unserer Position verzeichnet.
    Jack Lewis ließ einen Mann die Takelage aufentern. Schon bald hörten wir von oben bestätigende Rufe. Einige Stunden später tauchte eine mit Palmen bekränzte Küstenlinie am Horizont auf.
    «Deine menschenleere Insel?», fragte ich Jack Lewis, der neben mir an der Reling stand.
    Er nickte, sagte aber kein Wort.
    Als wir näher kamen, bemerkte ich, dass bereits ein Schiff vor der Küste lag.
    «Sieht aus, als wäre jemand zuerst gekommen.»
    Ich deutete auf die Insel.
    «Das ist ein Wrack», erklärte Lewis. «Es liegt schon seit vielen Jahren dort auf dem Riff. Es ist die Morning Star. Die Porträts der rotnasigen Dame und ihres Mannes aus meiner Kajüte stammen von dort.»
    «Und die Mannschaft?», fragte ich.
    «Die Mannschaft war lange tot, als ich es fand.»
    «Was war passiert?»
    Jack Lewis zuckte mit den Achseln.
    «Das wissen nur sie selbst, und bekanntlich reden Tote nicht.»
    «Meuterei?»
    Jack Lewis drehte sich um, um einem der Kanaken einen Befehl zu erteilen. Mir war klar, dass ich nicht mehr von ihm erfahren würde. Aber ich sah ihm an, dass er etwas vor mir verheimlichte.
    Wir kreuzten vor dem Riff und suchten nach einer Lücke. Jack Lewis steuerte auf das Wrack zu, und kurz bevor wir es erreichten, öffnete sich ein Loch in der tosenden Brandung. Die Besatzung der Morning Star hatte es nur beinahe getroffen und ihren Mangel an Präzision teuer bezahlen müssen. Das Schiff hing auf dem Riff, als wäre es mit großer
Kraft hinaufgeschleudert worden; und seine Lage erklärte auch, warum es aus der Ferne so unbeschädigt erschien, dass ich zunächst gedacht hatte, es liege in der Lagune vor Anker. Es hatte fast keine Krängung, und alle Masten standen noch. Der Name Morning Star war nach wie vor auf dem Heck zu lesen. Eine Galionsfigur, die in ein langes weißes Gewand gekleidet war, dessen Bemalung abblätterte, streckte wie um Hilfe rufend die Hände in Richtung Land aus, als wäre sie die einzige Überlebende und für alle Zeiten in der flehentlichen Bitte erstarrt.
    Dann befanden wir uns im Windschatten der Lagune, in deren durchsichtigem Wasser die Schatten von Fischen über den Sandboden glitten. Auf der anderen Seite des Riffs, hinter der weißen Brandung, wirkte das Meer tiefblau, als wäre ein Schatten darauf gefallen. Hier leuchtete das Wasser in einer smaragdgrünen Farbe, die es aussehen ließ, als würde der Sandboden eine Energiequelle von der gleichen Kraft wie die Sonne verbergen. Der weiße Strand wurde von wild wucherndem Unterholz begrenzt, das schon bald in Dschungel überging. Ich hatte das Gefühl, als wäre die dichte Vegetation eine Mauer, hinter der Jack Lewis seine Geheimnisse versteckte.
    Ich musste mich wohl meinen Betrachtungen hingegeben haben, denn ich hatte überhaupt nicht bemerkt, dass wir den Anker fallen ließen, als Jack Lewis plötzlich neben mir stand. Er hatte ein Fernrohr in der Hand und richtete es mit einer suchenden Bewegung auf den Strand. Ich konnte dort nichts erkennen, aber er stieß ein zufriedenes Grunzen aus.
    «Nun ist der Augenblick also gekommen.»
    «Welcher Augenblick?»
    «Der Augenblick, an dem ich dir demonstrieren werde, dass ich ein Mann bin, der sein Wort hält. Du hast mir nicht geglaubt, als ich sagte, dass die Männer im Laderaum freie Männer und keine Sklaven sind. Nun kannst du selbst urteilen.»
    «Du hast ein Gewehr in der Hand.»
    «Man muss seine Vorsichtsmaßnahmen treffen. Aber ich habe nicht vor, es zu benutzen.»
    Er gab den Kanaken den Befehl, die Luken des Laderaums zu öffnen und sich danach im Mannschaftslogis vor dem Mast

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