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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Galle mit hoher Greisenstimme auf dem Pult wie ein seltsamer Vogel in hilfloser Wut kreischte und mit den altersgelben Fäusten auf den Pultdeckel schlug.
    Dieser Galle bat eines Vorfrühlingstages, als draußen der letzte nasse Schnee unter dem ersten weichen Regen in einen häßlichen Brei zerging, einen seiner Schüler, ihn doch nach Haus zu bringen und die Hefte zu tragen. Vielleicht fürchtete sich der steifbeinige Alte mit seinen Galoschen vor der Glätte. Der Schüler schlug es ihm rundweg ab. Der nächste hatte etwas vor. Der dritte durfte nicht zu spät zu Tisch kommen. Der vierte sagte einfach nein. Der fünfte …
    Also, wer will mir den Gefallen tun? fragte der alte Mann seine Klasse.
    Niemand stand auf.
    Keiner –? fragte er, und der schmerzliche Ton in seiner Stimme hätte jeden, nur nicht diese achtzehn-, neunzehnjährigen Rüpel rühren müssen. Herr Galle sah die Reihen auf und ab. Auch Sie nicht, Gäntschow? fragte er traurig.
    Wie? fragte Gäntschow, erwachend. Und die Klasse brach in ein höhnisches Gelächter aus. Der Lehrer mußte erläutern.
    Selbstverständlich, sagte Gäntschow und setzte sich wieder.
    Gut, gut, sagte Herr Galle. Ich werde Sie nach der Stunde daran erinnern, Gäntschow, sagte Herr Galle und lächelte mit all seinen Altersaugenfältchen.
    Der Aufzug der beiden beim Heimmarsch wurde viel beachtet. |279| All die Schüler, die eben noch nicht die geringste Zeit gehabt hatten, verfügten jetzt über völlig ausreichende Zeit, den beiden heimlich oder offen zu folgen. Galle, in einem uralten, gelbgrünen Havelock, unter den er des Windes wegen seinen Bart geknöpft hatte, und Gäntschow, mit seinen spitz endenden Hosen, in einem väterlichen Lodenmantel. Der Alte, eingekrallt in den Arm des Jungen und hilflos auf seinen Galoschen rutschend, das gab schon ein Paar ab, jeder Betrachtung wert.
    Zwei richtige Penner, einer wie der andere, urteilten die Schüler. Wenn sie freilich glaubten, durch ihr Lächeln oder durch halblaute Bemerkungen im Rücken die beiden zu kränken, so hatten sie sich geirrt. Gäntschow war viel zu weit fort, um überhaupt etwas zu merken. Und der alte Galle hatte mit so viel Generationen Schülern so viel Generationen Kummer ertragen, daß ein Auslachen oder ein Witz ihn wirklich nicht mehr verwunden konnten.
    Sie gingen beide, Gäntschow ganz, Galle fast stumm, einen mühsamen, langen Weg durch endlose Häuserstraßen. Der alte Lehrer lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den jungen Schüler und murmelte nur manchmal, wenn ein Fuß ihm fortrutschte, vor sich hin: Kommst du her! – Willst du mal keine Geschichten machen – Gummischuhe! (Er sagte es mit abgrundtiefer Verachtung.) Was sie alles erfinden, diese Dämlacks! Rutschschuhe, Gleitschuhe, Mordschuhe!
    Sie waren allmählich aus den eigentlichen Wohnstraßen hinausgekommen und gerieten nun in ein Viertel, wo inmitten von Gärten Villen lagen. Gleich werden wir es haben, murmelte der Alte. Ein kräftiger Bursche, weiß Gott. – Willst du wohl stehen, verdammtes Bein, du kannst mich doch nicht hinschmeißen!
    Um einen großen Park lief eine hohe, zementierte Steinmauer. Dort, wo ein geschmiedetes Gitter mit vergoldeten Knäufen die Einfahrt zum Park verschloß, lag eine Art größeres Pförtnerhaus in der Mauer. Galle kramte in seinen Taschen, holte ein Schlüsselbund hervor. Er schalt: Wenigstens |280| die Treppe müssen Sie mir noch hochhelfen, sonst falle ich noch auf der Treppe.
    Er schloß auf. Gäntschow ging wortlos mit, er wäre überallhin mitgegangen, er wußte kaum, wo er war. Der Druck auf seinem Herzen war unerträglich stark.
    Unten schien der Pförtner zu wohnen, ein vollmondhaft breites und bleiches Gesicht erschien in einem Fenster und nickte. Der alte Galle nickte zurück. Seit er das Haus betreten hatte, bewegte er sich rascher und sicherer. Auch seine Stimmung schien anders geworden zu sein: Ja, hier wohnen wir. Sie werden sehen, Sie müssen sehen … Er zog sich mit einer Hand am Treppengeländer hoch, die andere ließ Gäntschows Arm nicht los. Gehen Sie da hinein. Legen Sie die Hefte auf das Pult, ich bringe gleich Kaffee. Er schob den Schüler zwischen zwei Vorhängen hindurch an eine Tür und verschwand im Flur. Gäntschow öffnete die Tür und trat ein. Man konnte das Zimmer schon einen Saal nennen. An seiner Längsseite hatte es vier, an der Schmalseite zwei sehr breite, sehr hohe Fenster, die alle auf den Park hinausgingen. Diese Fenster zogen Johannes sofort magisch an.

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