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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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muß ich Sie bestimmt schlagen.
    Er hatte leise gesprochen. Aber schon nach seinem zweiten Wort war die Klasse so totenstill gewesen, daß jeder sein eigen Herz immer lauter klopfen hörte. Aller Augen hatten zu Herrn Liebenau hingesehen. Der war aschfahl geworden, und er hatte Gäntschow angesehen wie ein Gespenst. Als Gäntschow seinen Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte er seinen Blick auf den Pultdeckel vor sich gerichtet, als gebe es keinen Liebenau und als sei nichts geschehen.
    Der Lehrer hatte in der allgemeinen Stille einen Augenblick bewegungslos gestanden, dann hatte er sich umgedreht und war langsam wie benommen gegen die Tür gegangen. Er hatte die Klinke angefaßt und war, ohne sich noch einmal umzusehen, aus der Klasse gegangen, deren Tür er hinter sich schloß. Die Schüler saßen lautlos, die Erstarrung wollte nicht weichen. Die Ahnung irgendeines kommenden großen Unheils rührte gestaltlos jeden an.
    Dann ging die Tür wieder auf, und Herr Liebenau kam herein. Er war noch immer sehr bleich, er schluckte auch ein- oder zweimal, ehe er sprach. Aber als er dann sprach, geschah gar nichts. Er fuhr einfach im Unterricht fort. Nur, daß er von da an nie wieder einen Scherz machte, nie wieder schrie, auch nicht wieder leutnantshaft schnarrte, auch nie wieder Gäntschow ansprach.
    Der einzige vielleicht, der kaum etwas von dieser Veränderung merkte, war Johannes Gäntschow. Eine lähmende Trauer, eine nicht abzuschüttelnde Apathie waren über ihn gesunken, seit er in dieser Stadt lebte, in diese Schule ging. Es hatte ihn schon leise gestreift, als er in dem verräucherten, viel zu engen, wimmelnden Bahnhof angekommen war. Es war stärker geworden, als er durch diese Straßen ging, die, |277| zu eng und zu überfüllt, seinen Schädel mit einem sinnlosen Lärm vollgepfropft hatten, der bis in seinen tiefsten Schlaf hinein schwatzte, klingelte, kreischte, tutete. Es war schlimmer geworden in der fast lichtlosen Hinterstube bei Frau Postschaffner Bimm, an einem Hof, der mit tausend höllischen Gerüchen stank. Bei einer Kost, in der aberwitzig schmeckende Gewürze den Gehalt ersetzen sollten.
    Diese ganze Stadt schien ihm eine Torheit und ein Aberwitz. Die endlosen Häusermassen, eine hinter der andern, machten ihn trostlos ungeduldig nach einer ebenen Fläche, die an den Horizont grenzte. Diese Städter, hastig und sinnlos durch alle Straßen laufend, aus Häusern in Häuser, ließen ihn trocken schlucken vor Sehnsucht nach einem Mann, der Fuß vor Fuß, eine Sense schwingend, langsam durch ein Kornfeld geht. Der Gedanke, selbst sein Lebtage in solchen Steinstädten wohnen zu müssen, mitwimmeln zu müssen, entsetzte ihn bis zur völligen Lähmung. Immer saß innen, hinter seinen Augen, ein trocken brennender Druck, den keine Träne hätte löschen können. Immer wachte er morgens aus einem dumpfen, traumlosen Schlaf, der ihn ins Nichts gestürzt zu haben schien, mit schädelsprengenden Kopfschmerzen auf.
    Er hatte dem Vater zwei oder drei Briefe geschrieben, aber er durfte nicht zurück. Zuerst hatte der Vater geantwortet, er werde das Heimweh schon überwinden. Aber er hatte kein Heimweh, davon war er fest überzeugt, er konnte nur nicht in Städten leben. Er wollte Landwirt werden, um auf dem Lande leben zu können. Der Vater schlug es rundweg und böse ab. Jetzt war Johannes fast zwanzig Jahre, und jetzt wollte er wieder von vorne anfangen? Noch einmal als Lehrling? Nichts, drei Jahre Ausbildung, Geld, Kraft, Zeit vertan – es war kein Gedanke daran. Mußte der Vater ihn noch an die Zeit bei Superintendent Marder erinnern? Er, der Sohn, hatte es selbst gewollt, er hatte selbst diese Ausbildung gewünscht. Der Vater hatte ihm auch darin nachgegeben, daß er ihn drei statt eines Jahres in die Werkstatt hatte gehen lassen. |278| Jetzt hatte er auf dem Wege zu bleiben! Nun gut, er blieb weiter auf der Maschinenbauschule. Er war erstarrt, er war von innen heraus erfroren, er saß seine Stunden ab.
    Es gab auf der Schule einen uralten Lehrer, fast zahnlos, mit einem schmutzigen, grauweißen Vollbart, der bis auf den dritten Knopf der fleckigen Weste ging, einen Herrn Galle, eine einfach komische Figur. Die Schüler gaben ständig vor, seine zischende, sausende und nasse Sprache nicht zu verstehen, sie zwangen ihn, immer lauter zu sprechen, wodurch sich das Zischen, Sausen mitsamt der sprühenden Nässe nur verstärkten – und dann brachen sie schließlich in ein schallendes Gelächter aus, während Herr

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