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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Fingern in ihrer Hand fort. Die ist seit zweiunddreißig Jahren nicht aus dieser Wohnung gekommen. Wie alt sind Sie? Bald zwanzig? Denken Sie, in zweiunddreißig Jahren hat sie vielleicht zehn Menschen außer mir kennengelernt. Er lachte wieder. Ein unbändiger Stolz auf diesen Fleischklotz schien ihn zu erfüllen. Doch jetzt wurde seine Stimme bittend: Ich habe ihr darum auch erlaubt, nicht wahr, Sie haben nichts dagegen, Gäntschow? Sie möchte Sie so brennend gerne kennenlernen. Setzen Sie sich dort einfach in den Stuhl rein – nein, |283| Sie müssen doch keine Angst haben! Sie tut Ihnen doch nichts. Sie fühlt Sie bloß ab … Bitte, tun Sie mir den Gefallen …
    Der Koloß schob sich auf Johannes zu. Irgendwie schien er zu wissen, wo Gäntschow stand. Die niedrige, verzottelte Stirn war genau auf ihn hingerichtet. Es ging nur langsam. Dabei schnaufte er wieder regelmäßig, wie eine Maschine ihren Dampf ausstößt. Er starrte wie gebannt auf dieses Gesicht, in dem jede blaurote Pore zitterte. Es war wie ein fürchterlicher Traum, es konnte nicht möglich sein, daß sie ihn anfaßte. Er mußte sich doch bewegen können. Eine grauenhafte Angst überkam ihn …
    Nun, nun, sagte der Lehrer, Sie scheinen sich ja wirklich zu ängstigen. Das muß nicht sein. Wir können ja erst unseren Kaffee trinken. Sie kocht einen vorzüglichen Kaffee …
    Der Lehrer war neben der Frau. Er nahm wieder die fette Hand, tippte, die Masse begann zu zittern, ein schrecklicher, gurgelnder, dumpfer Laut kam über ihre Lippen.
    Sie ist traurig, daß sie noch warten soll mit dem Kennenlernen, erklärte Herr Galle.
    Ein stärkerer Windstoß gegen die Scheiben ließ Gäntschow sich nach dem Fenster umsehen. Die Tannenzweige bewegten sich heftig, der Regen hatte aufgehört, über den Baumwipfeln sah Johannes ein Stück blauen Himmel. Aber zugleich fühlte er etwas in seinem Gesicht, als hätte der Wind eine Flaumfeder dagegen geweht. Die dicke Frau hatte ihn angerührt. Es war die gelindeste, zarteste Berührung, die er je gespürt. Eine Sekunde sah er verwirrt in dieses grauenhafte Gesicht, das zu ihm aufgehoben war, die blicklosen, toten Augen, der Mund hatte sich geöffnet, das Kinn mit seinen vielen Wülsten hing schlaff herab … Und mit einem raschen Schritt hatte er sich von ihr frei gemacht. Noch einmal hörte er den klagenden, gurgelnden Laut, in dem jetzt etwas wie zornige Enttäuschung mitklang. Lehrer Galle sagte hastig protestierend und sehr laut etwas zu ihm, ja er griff nach ihm – aber da war schon die Tür, da war der Flur, da war die |284| Treppe, da war der spähende Mondkopf des Pförtners, da war das Haustor, da war die Straße!
    Er ging langsam durch den Wind über die Steine. Es hatte wieder zu regnen begonnen. Aber das war nur gut, es war, als wasche ihn der Regen mit seiner kalten, herben Frische. Er ging langsam, Schritt für Schritt, in tiefem Nachdenken. Er merkte nichts von Häusern oder Menschen. Etwas in seiner Brust hatte sich gelöst. Erst der Park und das Schloß, dann das Schreckgespenst. Vielleicht verstand er nicht, was ihm geschehen war. Sicher konnte er das nicht in seiner ganzen Ausdehnung übersehen, aber er wußte nun, endlich, nach qualvollen Monaten der Lähmung wußte er wieder, was er zu tun hatte. Wußte, daß er immer etwas hatte tun wollen und daß er es tun würde. »Ich«, so etwa wie »ich« hieß es. Kein ganz unbekanntes Wort. Aber jedenfalls kam es nur und allein auf ihn an, und alle Menschen und alle Häuser, alle Väter, Christianen, Studien von der Welt gingen ihn gar nichts an.
    Er machte vollkommen reine Bahn. Er ließ nichts zurück. Er behielt nichts. Er trank seinen letzten Morgenkaffee, er zog den grünlichen Sportanzug an, der Rucksack war schon gepackt, er sagte zu Frau Bimm: Ich gehe, und ging durch die Tür auf die Straße. Es war am 12. März 1913. Er wurde auf den Tag heute zwanzig Jahre alt. Alle Tage waren gut, den alten Krempel von sich zu schmeißen und ganz neu anzufangen, dieser Tag aber war sicher besonders gut.
    Es war kalt und regnerisch, als er losging in dies neue Leben. Er konnte ganz so gehen, wie es kam. Jeder Weg war so gut wie der andere. Er marschierte los, aus der Stadt heraus, sein Instinkt leitete ihn, zuerst einmal mußte er zum Meer.
    Er ging durch kleine Städte, er ging durch Dörfer. Die Hunde bellten hinter ihm her. Aber er besaß hundertdreizehn Mark und einen festen Eichenknüppel. Sie taten ihm nichts. Nichts tat ihm mehr etwas.
    Erst kam das

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