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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Stempel und einem fast gar nicht geheuchelten, völligen Allesnichtverstehen. Im übrigen waren es die goldenen Zeiten vor dem Kriege, in denen das Land reich und gastfreundlich war. Man machte nicht viel Aufhebens von einem fremden Vogel, der im eigenen Neste mitfraß: es war für alle genug da.
    Dann aber hatte Johannes Gäntschow noch das Glück, in einer Stadt, die Leeuwarden hieß, auf eine Schar deutscher Wandervögel zu treffen, zehn oder zwölf Gymnasiasten, von einem zwanzigjährigen Studenten geführt. Und da er nun nicht nur ein deutscher Bruder, sondern auch ein richtiger Einjährig-Freiwilliger war, und da zum andern den Pennälern genau wie ihm das Geld auf ihrer Fahrt ausgegangen war, so traten sie in eine lockere Verbindung, erzählten sich, wo sie an diesem Tage hingehen wollten, und halfen einander aus. Die Wandervögel hatten Gitarren und Mandolinen mit, und wenn sie in einen Ort kamen, so stellten sie sich auf den Marktplatz, ließen ihre Klampfen loszittern und sangen dazu alte deutsche Volkslieder. Sie hatten unter sich einen Gymnasiasten, ein langes, wadenloses Tier, ungeschickt, mit einer Brille, das weder ein Instrument spielen, noch eine Melodie mitbrummen konnte, das aber einen herrlichen grünen Filzhut mit einer langen Fasanenfeder hatte. Wenn dann die Holländer, erfreut über die schöne Abendmusik, klatschten, tauchte das musikalische Untier aus dem Hintergrunde auf, zog seinen Hut und sah, während die andern weitersangen und spielten, das Publikum mit seinen großen, traurigen, bebrillten Eulenaugen und seiner großen, bleichen Nase so kläglich an, daß ganz von selbst nicht nur Fünf- und Zehn-Cent-Stücke, sondern auch Gulden in den Hut fielen.
    |288| Gäntschow konnte singen, laut und schön. Und so sang er mit, wenn er gerade dabei war, und so bekam auch er seinen ehrlichen Teil von dem Münzenregen ab. Der Führer der Wandervögel, von ihnen »Acer«, was scharf heißt, genannt, sah den neuen Teilhaber und gelegentlichen Mitesser nicht allzu gern. Gäntschows schon wieder verbrauchte Schilfkleidung und seine breiten, verarbeiteten Hände schienen ihm verdächtig. Mit immer neuen, vorsichtigen Anfragen suchte er hinter das Geheimnis dieser Existenz zu kommen, war durcheinander listig, aufgeschlossen, stumm, vertraulich, schwatzhaft und machte auch zwei oder drei Versuche, den neuen Gefährten durch falsche Wegangaben loszuwerden, was aber immer durch heimliche Mitteilungen der andern Schüler mißlang.
    Zu andern Zeiten hätte Gäntschow aus diesem Verhalten des Studenten längst seine Schlüsse gezogen und sich völlig von der Schar getrennt. In der letzten Zeit aber, eigentlich seitdem er auf holländischem Boden war, fühlte er sich gar nicht mehr recht gut. Es hatte mit Nasenbluten angefangen, war mit Kopfschmerzen, Schwindel und Schwäche weitergegangen – in einer ihm sonst fremden Entschlußlosigkeit klammerte er sich an die Schar und zog hinter ihr her weiter, tauchte mittags am großen Kessel auf und ließ sich seine Portion geben, die ihm doch nicht schmeckte.
    Sie waren unterdes bis nach Haarlem gekommen, und von dem freundlichen Kapitän eines kleinen Frachtdampfers über den Zuidersee nach Helder, der Festung, mitgenommen, wanderten sie nun in langsamen Tagesmärschen die Westküste des Landes, fast immer am Nordseestrand, abwärts. Hier freilich konnte Gäntschow sehen, was eine rechte Meeresküste heißt: nicht in ein, zwei, drei spärlichen Dünenketten grenzte das Land ans Meer, wie er es von Fiddichow her gewöhnt war, sondern eine stundenweite, verlassene Wildnis mit Sand, Strand, Hafer und Disteln tat sich auf, wahre Dünenberge mit scharfen von Wind oder Flut zerrissenen Abhängen, mit Abstürzen und ewigem Geriesel, mit einem Strand, so breit wie seines Vaters sämtliche Äcker.
    |289| In den seltsamen Zustand von Benommenheit, der ihn jetzt alle Tage umfing, drang dies alles mit einer unerhörten Kraft; er konnte nach stundenlangem, stillem Wandern bei einem plötzlichen Möwenschrei auffahren, als sei gesprochen worden zu ihm und nur zu ihm. Und der Schrei des Vogels drang immer tiefer in ihn, in irgendwelche beunruhigend dunklen Bezirke, in denen er, lange noch hallend, langsam ausklang. Oder aber er konnte auf die See hinaussehen, deren grünliche Wellen hier mit einer unerhörten Wucht und Höhe auf den Strand liefen, und plötzlich überkam es ihn, als sei sein Herz angerührt worden. Seine Lippen fingen an zu zittern, seine Augen füllten sich mit

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