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Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
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Tränen, er flüsterte viele Male vor sich hin: O Gott! O Gott! O Gott! Und ging in einer grenzenlosen, verzückten Verzweiflung weiter, die erst in Stunden schwächer wurde.
    Die Wildnis aus Sand und See wurde immer großartiger und verlassener. Jetzt streckte sich der Dünengürtel schon so tief in ein völlig menschenleeres Land, daß der Student Acer jeden Morgen aus seiner Karte genau feststellen mußte, von wo in einem Wassersack Trink- und Kochwasser zu holen war. Zwei Mann brachten es an jedem Vormittag nach stundenlangem Marsch zum Abkochplatz heran, während die andern in der Brandung tobten und schrien oder völlig nackt weite Entdeckungsreisen durch die Dünen machten. An einem unvergeßlichen Tage hatte jenes wadenlose Gespenst mit der bleichen großen Nase, das bei den Konzerten als Schnorrer mit dem Hute herumging, Kochdienst. Dieser Jüngling von fünfzehn, Lenz mit Namen, war eine wunderlich unerträgliche Mischung aus Tiefsinn und Albernheit. Ein großer Schweiger und prahlerischer Schwätzer. Dumm wie ein Stück Holz und klug wie die Schlangen. Am Morgen hatte die ganze Horde einen Riesensack grüne Bohnen geschnitzelt, die ihnen irgendein gutmütiger Gemüsebauer geschenkt hatte, um elf kamen die beiden Boten mit dem Wassersack, das Feuer aus Strandholz flammte unter dem ungeheuren schwarzen Freßtopf auf: Und nun wirst du ja jedenfalls das fertigbringen, |290| diese Bohnen am Kochen zu halten, bis sie gar sind. Was, Lenz? fragte verächtlich der Student.
    Jawohl, jawohl, sagte der Unselige eifrig, ergriff den großen Holzkochlöffel und machte sich an ein eifriges und nutzloses Umrühren. Die Horde zog aus zum Baden und auf Abenteuer. Gäntschow, völlig zerschlagen nach einer wieder einmal fast schlaflosen Nacht, borgte sich von Lenz eine Zeltplane und kroch in einem Dünenschatten zur Ruhe.
    Allein geblieben, gab der Schüler Lenz das Umrühren bald auf und versank in ein Nachdenken über gar nichts, aus dem er erst erwachte, als das Feuer fast ganz heruntergebrannt war. Still ruhte der Topfinhalt. In großer Hast schob der Befehlskoch neues Holz unter den Topf. Der Dreifuß, auf dem er ruhte, kam ins Wanken, der Topf stürzte um, und das kostbare Süßwasser versickerte im Sand.
    Kinder und Narren wissen stets die unmöglichsten Auswege. Zuerst fachte Lenz, nach einem vorsichtigen Ausblick auf seine Kameraden, die aber alle außer Sicht waren, und dieser Stromer pennte, das Feuer wieder an – dann warf er Bohnen, Kartoffeln und Strandsand kunterbunt in den Topf, stürzte zur See und wusch alles gründlich durch, wobei ihm ein gutes Drittel der Kost fortschwamm. Dann setzte er das Ganze mit einer tüchtigen Portion Seewasser aufs Feuer, und schon nach kurzer Zeit kochte die Mischung wieder höchst befriedigend. Lenz wußte aus der Schule theoretisch und vom Baden dieser Sommerreise her praktisch, daß Nordseewasser sehr salzhaltig ist – er hatte vorgehabt, einen etwa zu starken Salzgehalt des Essens als ein guterdings-schlechterdings unerklärbares Wunder der Natur hinzustellen, und hatte darum auch die Unglücksstelle sorgfältig mit trockenem Sand bestreut. Irgend etwas warnte ihn aber doch. Und als er mit dem Kochlöffel sein Werk – die Hauptmahlzeit für vierzehn Ausgehungerte – kostete, war der Geschmack so höllisch bitter, daß ihm klar wurde, er würde für dieses Wunder nicht einen Gläubigen finden. Da er aber aus dem Chemieunterricht zu wissen glaubte, daß jede Säure neutralisiert |291| werden kann – durch eine Base, wie? – so schien ihm die Neutralisierung des bitteren Salzes durch den süßen Zucker geboten: er beraubte sämtliche Rucksäcke der privaten und öffentlichen Zuckervorräte, Streuzucker wie Stückenzucker, und warf das Ganze in den brodelnden Topf, der es gleichmütig aufnahm.
    Sein Engel warnte ihn, durch eine zweite Kostprobe die Richtigkeit seiner theoretischen Erwägungen nachzuprüfen. Er hockte sich wieder neben den Topf und begnügte sich, seine unbestimmbaren Gedankenketten von Zeit zu Zeit pflichtgetreu damit zu unterbrechen, daß er, jetzt vorsichtig, ein neues Stück Holz unter den Dreifuß schob.
    Es ist das Vorrecht junger Menschen, nicht den geringsten Sinn für Humor zu haben. Nachdem Lenz in einem wehmütig klagenden Ton seine theoretischen Erwägungen und praktischen Taten der empörten Horde auseinandergesetzt hatte, sank ein tiefes, verdrossenes oder wütendes Schweigen über alle. Sie hatten einen unsinnigen Hunger und Durst. Das

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