Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wir hatten mal ein Kind

Wir hatten mal ein Kind

Titel: Wir hatten mal ein Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Fallada
Vom Netzwerk:
gewärtigen hat. Er scheut nichts so wie Lächerlichkeit. Aber dann lehnt er sich zurück und ist beruhigt. Er sieht den Tatsachen ins Auge. Nein, gar kein Grund, die gemeinsame Silvesterfahrt aufzugeben, dem Freunde der Frau irgendeine Beschränkung aufzuerlegen.
    Die Insel Fiddichow wird ja in diesen Tagen immer grauer und trübseliger. Sie scheint einzuschlafen vor Langweile über sich selbst in Dunkelheit und Nässe. Dort hinten aber ist der Himmel immer hell. Die Leute lachen. Jeden Abend |483| feiern sie Feste. Strahlende Lokale, Kleider wie ein Traum, Schaufenster zum Aufschluchzen vor Begeisterung, köstliche Weine und schöne Mädchen – ach, das gleißende Strahlenbabel Berlin, das die im grauen Winter ächzende Provinz lockt!
    Sie sind in der Welt umhergereist, die beiden Wendlands, sie haben davon getrunken. Als sie es tranken, hat es vielleicht gar nicht einmal so gut geschmeckt. Aber jetzt, in der Wintererinnerung, lockt es, verführt es. Selbst Wendlands Augen bekommen einen helleren Schimmer, als er Gäntschow umständlich auseinandersetzt: Und nun in diesen weißen Curaçao ein Dip Angostura, Gäntschow, aber um Gottes willen nur ein Dip!
    Ausgezeichnet, lobt Gäntschow. Was ist übrigens ein Dip?
    Ja, er hat noch nicht davon gekostet. Ihn müßte es am meisten locken. Aber ihn lockt das nicht.
    Selbstverständlich. Warum nicht? sagt er. Man kann sich das ja mal ansehen.
    Aber er träumt andere Träume.
    Dip Angostura oder andere Träumereien: Schließlich sitzen sie doch am Silvesterabend in einem großen Berliner Lokal zwischen den Feiernden und feiern mit. Es ist eines jener großen Konzert-Cafés, die alle ihre eigene, ganz ihnen vorbehaltene Note in der Ausstattung haben, und die sich in der Erinnerung alle zum Verzweifeln ähnlich sehen. Sie haben einen guten Tisch bekommen, und auf dem Tisch steht natürlich heute, am Schluß des alten Jahres, und für den Beginn des neuen Jahres, Sekt. Es ist strahlend hell. Die Menschen jubeln und lachen und singen mit. Es gibt herrliche Kleider und wundervolle Frauen. Alles wie gedacht, und alles ist ganz anders.
    An ihrem Tisch sitzt für ein halbes Stündchen Herr Kammergerichtsrat Lenz. Er hat den Lebensretter seines Sohnes im Gewühl entdeckt. Und nun ist er eine Weile schon an ihrem Tisch, um ein paar Worte mit ihm zu reden.
    Aber es ist alles ganz anders. Denn Herr Lenz spricht |484| nicht mit Johannes Gäntschow, sondern er unterhält sich ein wenig mühsam mit Herrn Wendland, fragt ihn nach seinem Gut auf Fiddichow, von dem Herr Wendland wenig weiß und das Herrn Lenz gar nicht interessiert. Aber ab und zu, wenn er meint, daß der andere ihn nicht beobachtet, wirft der eine der beiden Männer einen behutsamen Blick auf das Paar, das mit ihnen am Tisch sitzt. Behutsam, als könnte er dabei erwischt werden. Doch wenn ihn sein Partner nicht erwischt, die beiden merken nichts. Die beiden sind nicht von dieser Welt.
    Sie sitzen da mit gesenkten Blicken und malen mit dem Finger auf das Tischtuch, und manchmal hebt das eine den Blick und sieht das andere an. Und dann hat auch das andere den Blick gehoben, und nun begegnen sich diese zärtlichen, überquellenden, berauschenden Blicke, einen Augenblick lang … Die Lider senken sich von neuem, und der Abglanz eines schönen, seligen Lächelns liegt auf ihren Zügen …
    Ja, sagt Kammergerichtsrat Lenz, und nun muß ich wohl gehen. Darf ich aber vorher noch einmal auf Ihr aller Wohl anstoßen? Auf Ihres aber, Herr Gäntschow, ganz besonders.
    Lenz hat sein Glas erhoben, und nun erhebt auch Gäntschow seines. Er sagt verloren: Ja, ja … und lächelt Herrn Lenz an, als bäte er ihn für etwas um Entschuldigung …
    Er lächelt noch einen Augenblick weiter, und nun setzt er das Glas wieder hin, ohne getrunken zu haben. Er hat sicher alles vergessen. Er denkt über etwas nach. Sein Gesicht trägt einen Ausdruck von nachdenklichem Ernst.
    Die Frau aber, Christiane aber, hat überhaupt nichts gehört, sondern die ganze Zeit mit der Kante des Tischtuchs gespielt.
    Eine Naturkatastrophe, denkt der Kammergerichtsrat. Ich muß sehen, daß ich sofort wegkomme. Der Mann sieht nicht so aus, als vertrüge er es noch lange.
    Und Herr Lenz schüttelt hastig die Hände, sagt aufs Geratewohl: Guten Abend und ein frohes neues Jahr, und taucht unter zwischen den Tischreihen der Jubelnden mit |485| dem Gefühl eines Mannes, der noch im letzten Augenblick ein Schiff verlassen hat, über dem sofort die Wellen zusammenschlagen

Weitere Kostenlose Bücher